Der kommerzielle Erfolg von Todd Phillips „Joker" ist vor allem der Verdienst des Hauptdarstellers. Joaquin Phoenix ist bekannt für seine spezielle Rollenauswahl und vermutlich deswegen nicht auf jedermanns Radar.
Joaquin Phoenix hat alle hochgesteckten Erwartungen weit übertroffen. Warum? Phoenix verstörte die Massen, weil er nicht nur authentisch interpretierte, mit Empathie und Engagement, nein, er kreierte eine nahezu selbstzerstörerische Melange aus Method Acting, vor allem aber ist er das Ideal der Improvisation.
In diversen Interviews mit der Fachpresse wurde bekannt, dass er in der Kühlschranksequenz eigenmächtig das Gefriergerät auf unsanfte Weise von seinem Inhalt befreite, um selbst hineinzukriechen. Die szenische Crew war völlig überrascht. Lawrence Sher verrät: „Wir waren verdutzt und erschrocken, dachten alle, es sein ein Scherz. War es aber nicht!" Keiner am Set wusste von dieser Aktion. Man drehte einfach weiter, weil es so fantastisch anzusehen war. Aber damit nicht genug, ähnliche überraschende Eigenmächtigkeiten folgten. Als Arthur Fleck sollte Joaquin Phoenix auch nur geistesabwesend in den Spiegel starren, stattdessen tanzte er davor wie ein betrunkener Schamane auf glühenden Kohlen. Also wurde auch diese nicht geprobte Choreografie übernommen. Regisseur Phillips erklärte gegenüber der Musik-Fachmagazins „Rolling Stone": „Joaquin schafft mehrere Formen des Lachens, das ‚Leidlachen‘, das ‚Jungslachen‘ und das ‚Lachen echter Freude‘. Er wollte, dass das Lachen ‚fast schmerzhaft‘ wirkt."
Schmerzhaft, stets dem Tode nahe sind auch seine extremen Rollen in extrem profunden Independent-Filmen wie 1997 in „Die Abbotts – Wenn Hass die Liebe tötet". Die reiche Familie Abbott und die Familie Holt aus der Arbeiterklasse haben eigentlich kaum Gemeinsamkeiten, doch es gibt es mehr Kontakte, als allen recht ist. Die Mutter der beiden Brüder soll eine heimliche Affäre mit Papa Abbott pflegen, der obendrein den Holt-Clan bestohlen haben soll. Während Jacey Holt, der ältere Bruder, nach Rache dürstet
und Abbotts älterer Tochter Eleanor (Jennifer Connelly) den Kopf verdreht, entwickelt sich derweil zwischen Pamela (Liv Tyler), der jüngeren, eine zarte Romanze für den stillen, sensiblen Doug Holt (aka Joaquin Phoenix).
Zurück zu den filmischen Wurzeln
Mit „Two Lovers" (2008) besinnt sich der umtriebige Phoenix nach „Gladiator" und „Walk the Line" wieder seiner Wurzeln und spielt einen vom Schicksal gebeutelten Loser Namens Leonard. Der wohnt zwangsläufig im „Hotel Mama und Papa", weil sich seine Freundin von ihm getrennt hat. Zwar jobbt er in der Wäscherei und fotografiert in freien Stunden, doch ist er nahe vor dem finalen Sprung von der Brooklyn Bridge. In dieser Dürrephase lernt er, zwei Frauen zu schätzen, Sandra (Vinessa Shaw), eine gutbürgerlich erzogene Tochter einer Business-Connection seiner Eltern und die attraktive Michelle (Gwyneth Paltrow), die allerdings auf einen verheirateten Mistkerl, der ihr die Ehe vorgaukelt und sie obendrein schwängert, hereinfällt. Da ist Leonard genau der Richtige, ihr neue Hoffnung, Kraft und letztlich sein Herz zu schenken … Die wunderschöne Lovestory ist die zweite Zusammenarbeit mit Regisseur James Gray nach dem packenden Milieukrimi „Helden der Nacht" von 2007.
Es folgt 2012 nach dem Mockumentary „I’m Still Here" die knallharte Kehrtwende zum bedrohlichen Mainstream-Independent-Coup in Sachen Macht und Ohnmacht vor US-amerikanischen Sektierern mit „The Master": Ex-Marine Freddie (Joaquin Phoenix) leidet nach dem Zweiten Weltkrieg unter posttraumatischen Belastungsstörungen und Höllenqualen, die er in Hochprozentigem ertränkt. Bis er fatalerweise auf Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) trifft. Lancaster führt Freddie in seine eigens geschaffene (Scientology)-Religion ein, die er als „Ursprung", sich selbst als „The Master" der übermächtigen Bewegung bezeichnet: ein unprätentiöses Meisterwerk von Paul Thomas Anderson, eine weitere Oscarnominierung für Phoenix.
Einen harschen, konträren Ausflug ins romantische Dramedy-Fach als bebrillter Nerd 2013 unter der Regie des Multitalenten Spike Jonze festigt Phoenix’ einzigartige Wandelbarkeit. In „Her" verdient er als Theodore seine Muffins als Gedichteschreiber für jene, die ihre Emotionen nicht in Worte kleiden können. Kurioserweise läuft es bei ihm privat selbst völlig aus dem Ruder. Seit seine Frau Catherine (Rooney Mara) ihn verlassen hat, vereinsamt er in einem kleinen Appartement. Doch das soll sich schlagartig ändern, als er das neue Betriebssystem Namens „Samantha" installiert und die mit ihm liebäugelt. Ein berührendes Drama über „Liebe" in Zeiten virtueller Partnerschaften.
Spiel mit vollem Körpereinsatz und Hingabe
Mit „Don’t Worry, weglaufen geht nicht" rollt er weiter auf einer ganz anderen Schiene – im Rollstuhl. An den ist der Cartoonist John Gallahan (Joaquin Phoenix) gefesselt, ein ungenießbarer Suchtbolzen und Kotzbrocken, der Gott und die Welt verachtet, am meisten jedoch sich selbst.
Aber auf der anderen Seite glänzt er als begnadeter Cartoonist, dessen bissige Werke zu Höchstpreisen gehandelt werden. Die furiose Sozialsatire und obsessive Gentrifizierungs-Parabel mit etlichen Seitenhieben auf das Land der stark eingegrenzten Unmöglichkeiten mit seiner nachhallenden Bankenkrise und marodem Gesundheitssystem bildet die zweite Zusammenarbeit mit der rebellischen Independent-Ikone Gus Van Sant („My Private Idaho", 1991) und dem absoluten Interpretations-Chamäleon Phoenix.
Mit traumwandlerischer Spielsicherheit wechselt er ebenso 2018 in „The Sister Brothers" von „Der Geschmack von Rost und Knochen"-Indie-Maestro Jaques Audiard und punktet mit einem der dramaturgisch dichtesten Western des Jahrzehnts: Im Jahr 1851 sind die Sisters Brothers als berüchtigte Killer bekannt, die ihre Aufträge gnadenlos ausführen. Dabei sind die beiden Brüder wie Feuer und Wasser: Eli (John C. Reilly) ist ruhig und überlegt, während Charlie (Joaquin Phoenix) als Kampftrinker glänzt. Auf ihrer Suche nach Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed), der angeblich eine Wunderformel zum Goldwaschen erfunden hat, kennen sie keine Gnade. Ihr dubioser Kontaktmann Jim Morris (Jake Gyllenhaal) ist dem Genius ebenfalls dicht auf den Fersen, hegt jedoch eigene perfide Pläne.
Resultat: Joaquin Phoenix räumte bei der „Golden Globe"-Trophäenparty am 6. Januar in Los Angeles seinen zweiten Golden Globe in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller in einem Drama" für seine jüngste Rolle als Arthur Fleck ab. Wie man sieht – mehr als nur einfach verdient.