Gleich drei aktuelle Studien haben nachgewiesen, dass Darmkrebs auch in der jüngeren Bevölkerung auf dem Vormarsch ist. Ein Vorsorge-Screening ist weltweit für diese Betroffenen noch nicht vorgesehen, obwohl deren Tumore häufig sehr aggressiv sind.
Darmkrebs zählt mit etwa 62.000 Neuerkrankungen und rund 28.000 Todesfällen jährlich zu den häufigsten Tumorerkrankungen in der Bundesrepublik. Statistisch gesehen erkrankt einer von 18 Menschen hierzulande in seinem Leben an Darmkrebs. Dennoch gilt das Kolorektale Karzinom, das potenziell sowohl Dick- als auch Enddarm in Mitleidenschaft zieht, bislang hauptsächlich als eine Krankheit für ältere Menschen jenseits des 50. Lebensjahres. Das wird allein schon durch die gängige deutsche Darmspiegelungs-Vorsorgepraxis bestätigt. Die Koloskopie wird von den Kassen kostenlos erst ab 55 Jahren angeboten, wobei die Altersgrenze für Männer ab 2019 auf 50 Jahre gesenkt wurde.
Dass auch jüngere Menschen an Darmkrebs erkranken können, wurde offenbar lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen, weder in der Forschung noch in der Öffentlichkeit. Das hat sich nun aber geändert. Drei aktuelle Studien belegen einen drastischen Anstieg der Krankheit auch bei jüngeren Erwachsenen unter 50 Jahren. Schon 2018 hatte eine Studie der American Cancer Society für Aufsehen gesorgt. Sie bestätigte zwar einerseits, das in den USA noch immer neun von zehn Patienten bei der Darmkrebsdiagnose 50 Jahre und älter waren mit rückläufiger Erkrankungstendenz seit Mitte der 80er-Jahre dank gut angenommener Koloskopie, aber andererseits hatte sie bei jüngeren Amerikanern einen deutlichen Anstieg der Tumorerkrankungen festgestellt.
In der Altersgruppe von 20 bis 39 Jahren stieg die Zahl der Karzinome seit Mitte der 80er-Jahre demnach um ein bis zwei Prozent pro Jahr beim Dickdarm- oder Kolonkarzinom, beim Enddarm- oder Rektumkarzinom war der Wert mit drei Prozent pro Jahr noch höher. Auch in der Gruppe der 40- bis 54-Jährigen war seit Mitte der 90er-Jahre ein kontinuierlicher Anstieg der Krankheitsfälle zu konstatieren, beim Kolonkarzinom lag der Wert zwischen 0,5 und einem Prozent pro Jahr, beim Rektumkarzinom bei zwei Prozent pro Jahr. In der rein deskriptiven Studie fanden sich keine Erklärungsansätze für diese Entwicklung, die nur in Fall-Kontroll-Studien durch Einbeziehung bekannter Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, Alkohol- oder Tabakkonsum, Diabetes, ballaststoffarme Ernährung oder häufigem Verzehr von rohem Fleisch erklärt werden könnte. Auch wenn genetische Ursachen, anhand derer in der Vergangenheit meist Darmkrebs bei jüngeren Menschen erklärt wurde, fraglos neben dem ungesunden Lebensstil weiterhin eine wesentliche Rolle spielen dürften.
Koloskopie wird ab 55 Jahren kostenlos angeboten
Dass auch in Europa die Darmkrebsrate bei jüngeren Menschen deutlich angestiegen ist, belegte jüngst eine von einem internationalen Forscherteam unter Leitung der Gastroenterologin Manon Spaander von der Uniklinik Rotterdam im Fachmagazin „Gut" veröffentlichte Untersuchung. Sie zeigte auch, dass die Rate bei älteren Menschen dank Früherkennung sinkt, obwohl in Deutschland noch immer mehr als die Hälfte der Erstdiagnosen auf Menschen jenseits der 70 Jahre entfallen. Für ihre Studie griffen die Forscher auf Daten von 144 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 49 Jahren aus 20 europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, zu. Demnach stieg die Häufigkeit der Darmkrebsfälle bei den 20- bis 29-Jährigen in Europa zwischen 1990 und 2016 um das Dreifache, von 0,8 auf 2,3 Fälle pro 100.000 Menschen, wobei sich besonders im vorigen Jahrzehnt die Zunahme erheblich beschleunigt habe. Ähnliche Zahlen lassen sich bestätigend aus dem deutschen Krebsregister ableiten, wonach 1999 von 100.000 Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren nur 0,96 an Darmkrebs erkrankt waren, während es heute bereits 2,3 sind.
In Deutschland hat sich laut der „Gut"-Studie die Zahl der Darmkrebserkrankungen bei den 20- bis 29-Jährigen innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt, speziell in den vergangenen Jahren ist eine starke Zunahme zu verzeichnen. Auch diese Studie, die die erhöhte Tumor-Erkennungsrate teilweise auch auf die immer besseren Vorsorgeuntersuchungen zurückführt, wagt dafür keinen Erklärungsversuch. Allerdings geht man in der Forschung davon aus, dass bei jüngeren Menschen tendenziell mehr aggressivere Tumorvarianten vorliegen und dass bei Patienten unter 50 Jahren schon bei der Erstdiagnose häufiger Metastasen als bei älteren Erkrankten nachgewiesen werden können. Eine fraglos beunruhigende, von US-Forschern unlängst im Fachblatt „Cancer" publizierte Erkenntnis, weil sich Darmkrebs meist aus harmlosen Polypen auf der Darmschleimhaut entwickelt. Wenn bei der Vorsorgeuntersuchung etwaige Veränderungen dieser Polypen Richtung Krebsvorläufer entdeckt werden, können sie normalerweise problemlos entfernt und dadurch dem Krebs der Nährboden entzogen werden.
Dass auch außerhalb Europas die Krebsrate in der jüngeren Bevölkerung zugenommen hat, konnte jüngst das Team um Marzieh Araghi von der in Lyon ansässigen Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) in einem Beitrag für das Fachmagazin „The Lancet Gastroenterology & Hepatology" nachweisen. Denn neben den Krebsregistern von Dänemark, Großbritannien, Irland und Norwegen bis zum Jahr 2014 wurden dafür auch die entsprechenden Daten aus Australien, Neuseeland und Kanada ausgewertet. Generell stellten sie dabei eine sinkende Häufigkeit der Erkrankung bei Menschen ab 50 Jahren fest, wofür sie die Vorsorgeuntersuchungen wie Stuhltests oder Darmspiegelungen als ursächlich ansahen.
Die Rate bei älteren Menschen sinkt dank Früherkennung
Auch in Deutschland, wo bislang leider nur jeder vierte Berechtigte das Angebot zur Koloskopie wahrnimmt, obwohl nachweislich durch frühzeitige Darmspiegelung etwa 70 Prozent der Darmkrebsfälle verhindert werden könnten, ist laut dem Krebsregister eine ähnlich positive Entwicklung zu verzeichnen. Demnach sank hierzulande in der Altersgruppe ab 50 die jährliche Rate der Neuerkrankungen zwischen 2002 und 2014 um rund ein Fünftel: von 204 Neuerkrankungen auf 161 Fälle pro 100.000 Menschen. Diesem positiven Trend stellten die IARC-Forscher die negative Entwicklung bei jüngeren Menschen entgegen, was sich vor allem in der Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren bemerkbar machte. „Verglichen mit den um 1925 Geborenen hat die um 1990 geborene Generation in Norwegen ein verdoppeltes altersspezifisches Risiko für Dickdarmkrebs und ein verfünffachtes Risiko für Mastdarmkrebs", so das Resümee der IARC-Wissenschaftler. „Ähnliche Trends wurden für die um 1990 geborenen Kohorten in Australien, Kanada, Neuseeland und Großbritannien festgestellt."
Die neueste, wieder im Magazin „Gut" publizierte Studie der in Atlanta ansässigen US-amerikanischen Krebsgesellschaft American Cancer Society untersuchte unter Leitung von Rebecca Siegel erstmals weltweit das Vorkommen von Darmkrebs bei 20- bis 49-Jährigen im direkten Vergleich mit Betroffenen ab 50 Jahren. Dabei wurden Daten aus 43 Ländern ausgewertet. Südkorea ist demnach der Staat, in dem zwischen 2008 und 2012 jährlich die meisten jüngeren Erwachsenen unter 50 Jahren an Darmkrebs erkrankt waren: Tumore wurden dort demnach jährlich bei 12,9 von 100.000 jüngeren Menschen entdeckt. Die wenigsten Fälle bei den unter 50-Jährigen wurden in der indischen Stadt Chennai mit nur 3,5 Erkrankten pro 100.000 Einwohner registriert. Deutschland rangiert mit 7,7 Erkrankten im oberen Mittelfeld. Bei den Darmkrebserkrankungen von Erwachsenen jenseits des 50. Lebensjahrs steht die Slowakei mit 192,5 Fällen pro 100.000 Einwohner an der Spitze, auch in diesem Ranking belegt die Stadt Chennai den erfreulichen letzten Platz mit lediglich 27,5 Fällen.
Hochinteressant ist auch die Entwicklung der Darmkrebshäufigkeit bei jüngeren Menschen im Laufe eines Jahrzehnts, was in der Studie für 36 Länder überprüft wurde. Demnach blieb die Darmkrebsrate in 14 Ländern stabil, in drei Ländern ging sie zurück, und in 19 Ländern stieg sie an. In neun dieser 19 Länder, allesamt Staaten mit vergleichsweise hohem Einkommen und hochentwickeltem Gesundheitssystem, wurden zeitgleich mit dem Anstieg der Erkrankungsrate bei Jüngeren sinkende oder zumindest konstante Fallzahlen bei Älteren festgestellt. Es handelte sich dabei um Australien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Schweden, Slowenien und die USA. Bezüglich der Ursachen des Trends bei Jüngeren spekulierten die Studienautoren über veränderte Lebens- und Ernährungsstile ‒ ein Zusammenhang mit dem vermehrten Konsum von Fast Food und Fertiggerichten wurde dabei nicht ausgeschlossen ‒ und hielten auch häufige Antibiotika-Vergaben im Kindesalter für bedenklich.
Früheres Screening bei Patienten mit Darmkrebs in Familie
Noch ist nicht abzusehen, ob und welche Auswirkungen die vorgestellten Studien-Ergebnisse haben werden. Eine generelle Ausweitung der kostenlosen Darmspiegelung auf alle jüngeren Menschen wird sich aus Kostengründen wohl kaum realisieren lassen. Allerdings wäre schon viel gewonnen, wenn bei Ärzten ein gesteigertes Bewusstsein dafür erzeugt werden könnte, dass die Krankheit auch bei jüngeren Menschen immer häufiger auftreten kann. Auch wird neuerdings international unter Experten intensiv darüber diskutiert, die Altersgrenze für das Screening zu senken. Die Autoren der jüngsten Studie empfehlen, dass Ärzte Patienten unter 50 Jahren, bei denen Darmkrebs in der Familie aufgetreten ist oder die selbst erste Symptome zeigen, vorsorglich mit den etablierten Methoden untersuchen sollten. Diese Empfehlung gilt auch schon offiziell in vielen Ländern, beispielsweise auch in Deutschland.