Seine Rede zur Lage der Nation wird zu einer Zäsur für Russland. Wladimir Putin pocht auf eine Verfassungsreform. Was das für Russland und die ganze Welt bedeuten kann, erklärt Politikwissenschaftler Edgar Werner Müller.
Herr Müller, vor wenigen Tagen forderte Wladimir Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine massive Reform der russischen Verfassung. Unter anderem will er beispielweise dem Parlament künftig mehr Macht einräumen. War diese Entscheidung abzusehen?
Nein, niemand hat damit gerechnet.
Welches Ziel könnte er damit verfolgen?
Nun, die Chinesen würden dazu sagen: Er reitet den Tiger. Mit seinem Machteintritt hat er die Oligarchen, die sich wie Leichenfledderer mit dem Volksvermögen der Sowjetunion eine Machtbasis verschafft hatten, ohne neues Volksvermögen zu schaffen, gespalten. Einige, die sich nicht für ihn ausgesprochen haben, hat er zu Gegnern erklärt und die anderen um sich geschart. Und jetzt führt er eine Oligarchen-Despotie. Somit stellt sich die Frage: Wie kann er – um die chinesische Redewendung wieder aufzugreifen – vom Tiger runterkommen, ohne gefressen zu werden?
Die ersten Andeutungen, die er dabei erkennen lässt, laufen tatsächlich auf eine Re-Parlamentarisierung hinaus. Er könnte beispielsweise die Duma zu einer Art Bundestag machen. Dieser Bundestag würde dann einen Kanzler wählen, der statt des Präsidenten die Macht im Staate hat.
Es könnte aber auch sein, dass er damit wirklich innenpolitische Strukturprobleme angehen möchte. Letzteres wäre eine tatsächliche Chance, vom Tiger abzusteigen, ohne – nochmals bildlich gesprochen – von ihm gefressen zu werden.
Zudem kündigte Putin auch eine Änderung der Verfassung in Bezug auf die mögliche Präsidentschaftskandidaten an. Wer sich 2024 zur Wahl aufstellen lassen möchte, muss in den vergangenen 25 Jahren ständig in Russland gelebt haben. Möchte er damit die mögliche Nachfolgerauswahl einschränken? Beispielweise die Oligarchen, die – wie Sie bereits erwähnt haben – als Putin-Gegner aus dem Land fliehen mussten?
Nun, das ist eine interessante Theorie. Darüber könnten wir zurzeit nur spekulieren.
Gibt es Ihrer Meinung nach schon jetzt einen möglichen Nachfolger, der in Putins Fußstapfen treten könnte?
Ich kann mit Sicherheit sagen, dass das Tandem Putin-Medwedew so wie bisher nicht mehr funktionieren kann. Wer allerdings anstelle von Putin regieren wird, ist meiner Meinung nach noch gar nicht abzusehen. Dafür ist es aber noch zu früh.
Zurück zu seiner Ansprache zur Lage der Nation. Neben der angekündigten Verfassungsänderung veränderten sich auch die thematischen Schwerpunkte seiner Rede an das russische Volk. Früher legte Putin besonderen Fokus auf die Außenpolitik. Jetzt handelte er das Thema in wenigen Sätzen ab und sprach hauptsächlich über die innere Situation in Russland. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass seine Beliebtheitskurve innerhalb der Bevölkerung nicht nur über den Zenit hinweg ist, sondern auch gewaltig am Sinken. Somit kann er mit seinen außenpolitischen Spielchen auch keine Unterstützung seitens seiner Bevölkerung mehr gewinnen, so wie beispielweise seinerzeit mit der Annexion der Krim. Wir haben ja gesehen, wie viel Zuspruch ihm das gebracht hat. Das ist jetzt vorbei. Nun muss er in einer Art und Weise umsteuern, die seiner bisherigen Politik genau zuwiderläuft.
Was meinen Sie damit?
Er hat innenpolitisch extrem auf immer stärkere Kontrolle der Macht gesetzt und davon mit außenpolitischen Erfolgen abgelenkt. Doch je schärfer ich ein System von Befehl und Gehorsam durchgreifen lasse, bis in die Bevölkerung und bis in die Wirtschaftstätigkeit, desto weniger kann sich eine freie mittelständische, bürgerliche und selbstragende Wirtschaft entwickeln. Und genau das ist die Krux von Russland. Genau da fällt Russland immer weiter zurück.
Diese Rezession hat er jetzt eine Weile mit den Sanktionen gerechtfertigt. Aber von denen muss er auch runter. Und um das zu schaffen muss er dem Westen wirklich etwas bieten. Denn es gibt extrem starke, legale Gründe, weshalb man ihn nicht einfach seine Pseudo-Legalisierung in der Krim durchgehen lassen kann. Die Parallele zum Sowjetregime ist zu offensichtlich, das geht so nicht. Da muss er schon was bieten.
Was könnte er bieten?
Denkbar wäre ein ganz anderes Russland, das parlamentarisiert wäre. Also nicht nur die Rückgabe der Macht an eine Abnick-Maschine Duma. Wir wissen ja, wie Boris Jelzin die Duma seinerzeit reformiert hatte und was für eine Verfassung Putin übernommen hat. Früher brauchte Jelzin lediglich nur damit zu drohen, dass er das Parlament auflöst, und die Hälfte der Abgeordneten musste befürchten, nicht wiedergewählt zu werden, also haben sie im Zweifelsfalle getan, was der Präsident verlangt. Im Gegensatz dazu braucht Putin den Abgeordneten gar nicht mehr zu drohen. Die Duma nickt ab.
Das Problem ist allerdings die Bevölkerung. Selbst die einer so radikalen Geheimpolizei unterworfene Bevölkerung wie die Rumäniens hat irgendwann einfach die Ceausescus abgeurteilt. (Der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu herrschte von 1965 bis 1989 als Staatsschef der Republik Rumänien. Im Zuge innerer Unruhen wurde der Diktator gestürzt und anschließend mit seiner Frau hingerichtet, Anm. d. Red) Die gesamte Volksmasse kann eigentlich nur regiert werden, wenn es ein Minimum an Einverständnis gibt. Und ein solches Einverständnis kann Putin jetzt auch nicht mit kosmetischen Reformen erreichen. Da muss er wirklich was Grundlegendes anbieten, und da eine Verfassungsreform anzudeuten ist ein Hoffnungsschimmer. Deshalb hängt auch alles davon ab, wie diese Verfassungsreform aussehen wird.
Dabei scheint Putin gerade jetzt sehr präsent zu sein auf dem internationalen, politischen Parkett.
Ja, das stimmt. Putin hat ein ausgezeichnet Gespür dafür, Vakuumräume zu füllen. Wir haben es in Syrien gesehen, jetzt sehen wir es in Libyen. Wir sehen es überall bei kleinen Sezessionsbewegungen, wo früher wieder irgendein Weltpolizist mit dem Knüppel gekommen wäre.
Natürlich macht er das auch, um die verletzte russische Seele zu streicheln. Nach dem Leitgedanken: Wir werden immer mehr in die Ecke gedrängt. Das muss jetzt ein Ende haben, und wir drehen das Ganze um. Allerdings kann er dieses Spiel nicht endlos weitertreiben. Er tut es dennoch, natürlich. Und er tut es mit dem Erfolg, dass man an Russland nicht mehr vorbeikommt, wenn Probleme gelöst werden sollen. Aber wie ich bereits gesagt habe, neigt sich dieses Spiel dem Ende zu.
Wenn Sie jetzt eine realistische Zukunftsvision von Russland beschreiben müssten – wie würde Ihrer Meinung nach das Land in zehn Jahren aussehen?
Wladimir Putin wird nicht ewig leben. Man sieht es schon jetzt, wie gealtert und grau der sonst so vitale Putin aussieht. Seine Macht wird bröckeln. Seine Gegner wittern Morgenluft. Es wird in Russland Unruhen geben, das ist sicher. Doch was daraus tatsächlich entstehen wird, weiß keiner.