Vom Trabbi zum Porsche: Nach der Wende blieb kein Stein auf dem anderen in der ostdeutschen Autoindustrie. 30 Jahre später steht erneut ein fundamentaler Wandel an.
Mit der Wende droht das Aus. Produktionsanlagen werden abgerissen, Fertigungsstraßen rückgebaut, Maschinen verschrottet. Mangelwirtschaft, Fehlplanung und Devisenknappheit haben Autos aus der DDR einen Stempel aufgedrückt: nicht konkurrenzfähig. Ein fatales Signal setzt der Gebrauchtmarkt. Die Leute kaufen lieber abgerittene Schaluppen aus dem Westen als volkseigene Neuwagen. Vor allem der Trabant wird zum Symbol für den real existierenden Anachronismus eines ganzen Wirtschaftszweiges. Drei Jahrzehnte ist das her. Im Grunde ein ganzes Arbeitsleben.
Forscher sind sich heute einig: Was die Autoindustrie in den neuen Bundesländern anschließend erlebte, war keine Wiederbelebung. Es war eine Neugeburt. Heute sind etwa 70.000 Menschen dort in der Branche beschäftigt, die mit Abstand meisten in Sachsen. Im heutigen Freistaat hat der Autobau lange Tradition. Volkswagen hatte das Potenzial schon vor der Wende erkannt und zunächst in Chemnitz den DDR-Lizenzbau von Viertaktmotoren initiiert. Wohl wissend, dass es wirtschaftlich völlig unsinnig war, diese Motoren unter die Hauben von Wartburg und Trabi zu pressen. Es ging um den Fuß in der Tür.
Als die Mauer dann fiel, hatte VW sie längst überwunden. Bereits im Mai 1990, also noch vor der formalen Wiedervereinigung, rollte der erste in der DDR gebaute VW Polo im Zwickauer Stadtteil Mosel vom Band. Dort hatte man das Montagegelände des IFA-Kombinats Pkw übernommen. Im Dezember des selben Jahres gründete sich die Volkswagen Sachsen GmbH, und ein Jahr später wurde bereits der 50.000. VW im Osten produziert. Fünf Millionen sollten es ein Vierteljahrhundert später sein. Golf, Passat, Phaeton, aber auch Karosserien für Bentley sind „made in Sachsen".
Ab 2021 nur noch E-Autos
Jetzt steht wieder ein fundamentaler Wandel an. VW hat entschieden, dass Zwickau der zentrale Standort seiner Elektrostrategie wird. Der ID.3 rollt hier ab Ende des Jahres aus den Werkshallen. 1,2 Milliarden Euro schwer sollen die Investitionen sein, die VW dafür in den Standort buttert. Ab 2021 sollen in Zwickau nur noch Elektroautos entstehen. 7.700 Mitarbeiter bildet man dafür aus und weiter. Volkswagen spricht von der größten Qualifizierungsoffensive in der Geschichte des Unternehmens. Der Konzern, so scheint es, geht „all in".
Alleine aber ist VW in Sachsen nicht. Seit 2005 baut auch BMW in Leipzig Autos und folgt damit einer Tradition, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Thüringen begann. Bis 1945 wurde kein einziger BMW in Bayern gebaut, alle Autos entstanden in Eisenach. Im sächsischen Leipzig nun liefen oder laufen 1er-, 2er- und 3er-Baureihen sowie die Elektromodelle i3 und i8 vom Band. Gebaut, verwaltet und gemanagt von mehr als 5.000 Mitarbeitern, Gesamtinvestitionen bis heute am Standort: rund zwei Milliarden Euro.
Gut 1,3 Milliarden Euro hat bislang Porsche in Leipzig seit dem Millennium investiert. Angefangen hat der Sportwagenhersteller hier 2002 mit dem Bau des Cayenne – und exakt 259 Mitarbeitern. Später kam der Panamera hinzu. Jetzt folgt der nächste Schritt für die mittlerweile 4.300 Beschäftigten am Standort. Porsche baut für etwa 600 Millionen Euro das Werk so um, dass künftig auf der bestehenden Fertigungslinie neben den Benzin- und Hybridmodellen auch rein elektrisch betriebene Autos entstehen können. Den Auftakt für dieses Konzept bildet die nächste Generation des Macan.
Umbau für 600 Millionen Euro
Eine Automobilfabrik wünscht man sich auch in Sachsen-Anhalt. Doch bislang vergeblich. Dennoch hat das Bundesland eine automotive Bedeutung. Porsche und Schuler bauen künftig zusammen ein Presswerk in Halle, und der US-Batteriehersteller Farasis Energy eröffnet sein erstes europäisches Werk in Bitterfeld. Die Zulieferindustrie gehört zu den Schlüsselbranchen im Land. Leichtmetallguss oder Pulvermetallurgie etwa zählen zu den Kernkompetenzen. Aber auch die Dienstleistungen rund um die Autoproduktion, zum Beispiel in der Logistik. Das Land lockt Just-in-time-Spediteure damit, dass keine der großen Autofabriken in den Nachbarländern weiter als 150 Kilometer von einem Standort in Sachsen-Anhalt entfernt ist.
Der Blick geht weiter nach Brandenburg. Nicht nur, weil der US-Autobauer Tesla angekündigt hat, in Grünheide eine seiner Gigafactorys errichten zu wollen, um dort das Modell Y zu bauen. Das ist Zukunftsmusik – wie realistisch ein Bandlauf ab 2021 ist, werden die nächsten Monate erst zeigen müssen. Tatsächlich aber ist die Wertschöpfung der Autoindustrie in Brandenburg auch ohne Tesla beachtlich. In Ludwigsfelde baut Mercedes den Sprinter als Fahrgestell oder Pritschenvariante und beschäftigt im Werk etwa 2.000 Menschen.
Und zwar auf traditionsreichem Boden. Wo heute Transporter entstehen, baute man bis in die 60er-Jahre hinein Roller namens Pitty oder Wiesel, ehe 1965 die Lkw-Fertigung staatlich verordnet wurde. Dem Mauerfall folgten zähe Jahre für die Werksangehörigen nach der Abwicklung durch die Treuhand. Das übrig gebliebene Presswerk ging durch mehrere Hände, unter anderem die von Thyssen-Krupp, ehe 1996 Daimler übernahm. 2002 begann die Fertigung des Großraumtransporters Vario, ab 2006 kam der Sprinter.
Das Auto erfindet sich derzeit neu
Mecklenburg-Vorpommern dagegen spielt im Automobilbereich die kleinste Rolle unter den neuen Bundesländern. Einige Große der Zulieferbranche und zahlreiche Spezialbetriebe gibt’s aber auch hier. Webasto etwa in Neubrandenburg, TRW Airbag Systems, Flamm Aerotec oder den Allrad-Umrüster Oberaigner Automotive – alle in Laage bei Rostock. Mittlerweile arbeiten fast 5.000 Menschen in diesem Industriezweig, wird die Landesverwaltung nicht müde, zu betonen. Dass allerdings nicht alles einem Blick durch die rosa Brille standhält, zeigt das Beispiel Thüringen. Der Wartburg aus Eisenach, Motoren und Traktoren („Brockenhexe") aus Nordhausen und der bis heute existierende Multicar aus Waltershausen: Von hier kamen und kommen Produkte mit Exportqualitäten. Nach der Wende schickte sich General Motors an, am Standort Eisenach für seine Tochter Opel zu investieren. Mehr als 1,3 Milliarden Euro flossen seit der Grundsteinlegung 1991 ins Werk. Dem Produktionsstart 1993 wohnte Kanzler Helmut Kohl bei, fünf Jahre später kam US-Präsident Bill Clinton. Vectra, Astra, Corsa und später auch Adam – sie alle liefen in Eisenach vom Band.
Die vergangenen zehn Jahre aber waren für die Eisenacher Opelaner unerträglich. Tiefrote Zahlen, Staatsbeihilfe-Diskussionen, Schließungsdrohungen. Bis GM losließ und Opel an den PSA Konzern verkaufte. Was folgte, waren schmerzhafte Einsparungen. Etwa ein Zehntel des konzernweiten Arbeitsplatzabbaus trifft Eisenach: 450 Stellen weg, bleiben werden etwa 1.400. Nun wird der auf Peugeot-Technik basierende Grandland X in Eisenach vom Band laufen – als auf Sicht einziges Modell von Opel. Dafür aber auch später in einer Elektrovariante.
Digitalisierung, Elektrifizierung – das Auto erfindet sich auch oder gerade in den neuen Ländern ganz neu. Die Voraussetzungen aber sind anders als 1990. Im Gegensatz zu damals sind die Märkte gesättigt, Staatskreditbürgschaften schwieriger zu beschaffen. Ökonomen hoffen dennoch, dass es der Osten 30 Jahre nach dem Mauerfall noch einmal wuppt. Das Industrienetzwerk Automobilcluster Ostdeutschland (ACOD) geht von etwa 270 großen Autounternehmen in den NBL aus. Der derzeitige Anteil an allen in Deutschland produzierten Pkw liegt bei 15 Prozent. 26 Milliarden Euro hat die Autobranche im Osten zuletzt pro Jahr erwirtschaftet. Das ist eine gewaltige Summe. Sie ist unverzichtbar. Für die ganze Republik.