Buchstäblich auf gepackten Koffern sitzen zigtausende Kroaten in der Hoffnung auf ein besseres Leben anderswo. Da mag es zu Hause noch so schön sein. Wie kaum ein anderes ist das bislang letzte EU-Beitrittsland von Europa überzeugt. Aktueller Beleg ist die Wahl eines weltoffenen Sozialdemokraten zum Präsidenten.
Zoran Milanović kann man zur seltenen Spezies der politischen Stehaufmännchen mit Lernbereitschaft zählen: Als der Sozialdemokrat 2016 nach fünf Jahren das Amt des Ministerpräsidenten Kroatiens abgeben musste, schien seine politische Kariere am Ende. Dass er vier Jahre später als Staatspräsident zurückkommen würde, hätte kaum ein Beobachter für möglich gehalten. Kroatien schien fest in der Hand der HDZ zu sein, der Kroatischen Demokratischen Union, die damals Präsidentenamt und Regierung stellte und das Land mit teilweise seltsam aus der Zeit gefallenen Debatten dominierte. Doch es kam anders, die rhetorische Überlegenheit des Herausforderers und seine überzeugende Läuterung zum Staatsmann überzeugte offenbar: Politische Professionalität geht vielen Kroaten dann doch über altbackene Heimatparole.
Von der emotionalen und sich als volksnah bis zur Naivität gebenden Kolinda Grabar-Kitarović werden wohl nicht zuletzt die Tränen bei der Siegerehrung der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Moskau in Erinnerung bleiben, mit denen sie angeblich „die Herzen der Fußballwelt" eroberte. Ihr blieb nun nach der verlorenen Wahl nichts anderes übrig, als ihrem Nachfolger Erfolg zu wünschen – „im Interesse aller Kinder unseres Landes". Womit sie unfreiwillig den wunden Punkt traf, der Kroatien seit vielen Jahren beschäftigt und für den es keine Lösung zu geben scheint: Denn an Kindern mangelt es wirklich. Niedrige Geburtenraten und eine dramatische Abwanderung sind die wahrscheinlich größten aktuellen Herausforderungen für das Land. Von den etwa 4,3 Millionen Einwohnern, die in Kroatien vor zehn Jahren lebten, hat das Land derzeit noch gut 4 Millionen. Laut Projektion des Europäischen Statistikamtes dürfte die Zahl bis 2030 auf 3,8 Millionen und bis zur Jahrhundertmitte auf 3,4 Millionen schrumpfen. Jährlich packen zigtausende Kroaten ihre Koffer – die meisten ziehen nach Deutschland oder Österreich, wo sie dank gewisser kultureller Nähe schnell integriert sind und vergleichsweise gute Jobs bekommen können. Damit verdienen sie dann das vier-, fünf- oder sechsfache wie zu Hause. Inzwischen leben in Deutschland wohl um die 400.000 gebürtige Kroaten.
Tausende verlassen das Land jedes Jahr
Mittlerweile sind so viele weggezogen, dass vor allem in den Städten an der dalmatinischen Küste die Arbeitskräfte längst knapp geworden sind, die der Tourismus dort im Sommer braucht. In den Restaurants arbeiten Kellner aus Bosnien oder Serbien, die Sprache ist ja ohnehin die gleiche. Die ersten Zimmermädchen kommen inzwischen aus Asien. Aber keine oder keiner bleibt lange, denn Immigration ist für Kroatien undenkbar. „Zuwanderung ist derzeit kein Thema", sagte Ministerpräsident Andrej Plenković kürzlich im Interview mit der „FAZ". Kaum ein Land in Mittelosteuropa ist ethnisch, kulturell und religiös so homogen wie Kroatien.
Die katholische Kirche spielt vor allem in den Dörfern noch eine große gesellschaftliche Rolle. Und deren Vertreter haben kein Problem damit, schon einmal zusammen mit dem martialischen Folk-Pop-Star Marko Perković alias „Thompson" (mit Th und p, wie die Maschinenpistole) gesehen zu werden, von dem sich auch Frau Grabar-Kitarović – allerdings erfolglos – im Wahlkampf unterstützen ließ. Etwa mit einem Facebook-Kommentar, es ginge nun darum, den „Vormarsch der Kommunisten zu stoppen". Es scheint, dass einige Kroaten doch die Aktualität dieses Slogans bezweifelten.
Das nationalistische Kroatien wird politisch vor allem von der Partei HDZ repräsentiert. Diese war 1989 primär mit dem Ziel gegründet worden, Kroatien aus dem damaligen jugoslawischen Staat zu lösen – was auch gelang, allerdings zu dem Preis eines Krieges, der von 1991 bis 1995 etwa 20.000 Tote forderte und Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben hat, meist nach Serbien.
Der Krieg um die Unabhängigkeit hat überall im Land seine Spuren hinterlassen, in den umkämpften Regionen der sogenannten Krajina an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina oder Slawoniens im Nordosten, aber auch in den Köpfen vieler Menschen. Noch immer ist das Misstrauen gegen Landsleute mit ethnisch serbischer Herkunft groß, wie sich etwa am Sprachenstreit im damals besonders heftig umkämpften Vukovar an der Donau zeigt.
Auch die länger zurückliegende Geschichte ist noch immer umstritten, insbesondere lässt die Rolle des jugoslawischen Partisanenführers und Langzeitherrschers Josip Broz Tito den Kroaten keine Ruhe. Erst 2017 wurde in der Hauptstadt Zagreb der Tito-Platz in „Platz der Republik" umbenannt. Doch in einigen kleineren Städten im westlichen Istrien ist die öffentliche Verehrung Titos noch lebendig, was mit den etwas anderen Erfahrungen dieser Region im Zweiten Weltkrieg zu erklären ist.
Aber das ist nur das eine Kroatien. Der Sieg Milanovićs zeigt nun erneut, dass in Kroatien zwar die Nationalisten lautstark sind und im Ausland medial leichtes Futter abgeben für klischeeliebende Beobachter. Gesellschaftlich verwurzelt sind sie aber weit weniger stark. Vermutlich schreckt gerade die plumpe Selbstgerechtigkeit der Nationalisten viele Landsleute ab, die im letzten Vierteljahrhundert oft genug sehen konnten, dass die Souveränität über die eigene Nation und deren Landesgrenzen wahrlich keine Garantie für wirtschaftlichen Erfolg des Landes, Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt bietet.
Diese Begriffe rufen bei vielen Kroaten heute vielmehr Hohn und Spott hervor. Wirtschaftlich ging es seit Kriegsende zwar aufwärts, aber nach der Finanzkrise 2008 hat sich das Land so schleppend erholt wie kaum ein anderes in Europa. Erst vor Kurzem hat Kroatien das wirtschaftliche Niveau aus der Zeit vor der Krise wieder erreicht. Einer relativen Blüte von Bauwirtschaft, Hotels und Supermarktketten steht etwa die Misere der Landwirtschaft in Slawonien gegenüber. Der Tourismus floriert zwar, ist aber kaum in der Lage, gute und dauerhafte Jobs zu schaffen. Meist handelt es sich um weniger qualifizierte Saisonjobs, die den meisten Kroaten einfach nicht genug einbringen.
Kampf gegen die Korruption bleibt ein Sorgenkind
Da nennenswerter Reichtum nur über den Kontakt zu politischer Kontrolle entsteht, ist die Korruption, die tatsächlich schwer in den Griff zu bekommen ist, ein großes Thema. Zwei Namen können vielen Kroaten bis heute die Zornesröte ins braun gebrannte Gesicht treiben. Ivo Sanader, Premierminister von 2003 bis 2009, mehrfach wegen Korruption verurteilt, kam wieder frei und wurde erneut verurteilt. Der andere Fall ist der des gewieften und populären Zagreber Bürgermeisters Milan Bandić, der mit Unterbrechungen seit 2000 die Hauptstadt regiert, obwohl er sich dafür auch mal aus dem Gefängnis herauskaufen musste. Der Kampf gegen die Korruption ist vielen Kroaten wichtig, kennen sie doch das Problem oft aus eigener Erfahrung. Es zeigt sich jedoch immer wieder, wie schwer dieser Kampf ist. Die eigentlich populäre und auch international gelobte Anti-Korruptionspolizei Uskok kann zwar spektakuläre Verhaftungen vorweisen. Die Anklagen halten aber vor Gericht oft nicht stand. Ist das eine Schwäche der Gerichte oder ein Ausweis von Rechtsstaatlichkeit?
Vor die Wahl gestellt, gute diplomatische Beziehungen zu Deutschland zu haben und eng in die EU integriert zu sein – oder in die Vergangenheit verbohrt nationalistische Parolen zu heulen, ziehen die meisten Kroaten dann doch die Variante mit mehr Zukunft vor. Besonders der aggressive kroatische Nationalismus, der sich seit den 1920er Jahren zunehmend in der Rivalität zum etwas größeren, aber wirtschaftlich schwächeren, östlicheren Nachbarn Serbien erschöpfte, verliert heute an Überzeugungskraft. Zu den Zeiten der Osmanenkriege vom 14. bis ins 17. Jahrhundert war die Verbindung zu Österreich und Ungarn lebenswichtig. Dass man sich damals als Vorposten der Christenheit empfand und zum Teil osmanisch besetzt war, ist bei einigen bis heute sehr präsent.
Offenbar wird von den Sicherheitsbehörden seit einiger Zeit leichtfertig an diese Zeit angeknüpft. So machen seit Monaten Berichte und Beweisbilder die virtuelle Runde, die zeigen, dass kroatische Polizisten Flüchtlinge ins Nachbarland Bosnien-Herzegowina zurücktreiben. Diese Flüchtlinge – meist aus arabischen Staaten – sind zu Hunderten in bosnischen Flüchtlingslagern gestrandet, wo sie unter miserablen Bedingungen überleben müssen. Das sind teilweise unschöne Bilder. Zwar ist der Außengrenzschutz von der EU gewollt. Allerdings gäbe es ja auch die Möglichkeit, sie in Flüchtlingslagern auf eigenem Boden unterzubringen. Sie wurden 2015 unter großem Publicity-Aufwand und mit viel EU-Geld errichtet und stehen heute leer. Das aber will die Regierung offenbar der Bevölkerung nicht zumuten. Zumal die Bereitschaft, Flüchtlinge zu versorgen, in den armen Gegenden des Landes nicht viel höher sein dürfte als in Ungarn oder Polen. Aber sich offen gegen Deutschland und die EU zu stellen, widerspricht der Staatsraison Kroatiens. Man hält sich da lieber zurück. Da ist es gut, dass derzeit mit Ministerpräsident Andrej Plenković und eben Zoran Milanović zwei Politiker die Geschicke des Landes bestimmen, die einmal als Berufsdiplomaten angefangen haben und das zu nutzen wissen.
Die größte Herausforderung für die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft, die Kroatien seit Jahresanfang für ein halbes Jahr innehat, dürfte der Balkan-Gipfel im Mai in Zagreb sein. Hauptthema dieses Treffens soll es sein, die festgefahrene Erweiterungsdebatte für die Balkanländer wieder in Schwung zu bringen. Hatte die EU doch auf dem vergangenen Gipfeltreffen Albanien und Nord-Mazedonien die Eröffnung von Beitrittsgesprächen versagt, hauptsächlich weil der französische Präsident Emmanuel Macron sich der Fortsetzung der bisherigen Erweiterungspolitik verweigerte. Ob die Kroaten den selbstbewussten Franzosen werden umstimmen können, erscheint äußerst fraglich, aber immerhin könnten sie ja auf die positiven Folgen eines EU-Beitritts verweisen und dabei mit gewissem Recht auf sich selbst als bestes Vorbild.