Spätestens seit Einführung der Datenschutz-Grundverordnung ist das Recht auf Vergessenwerden in aller Munde. Rein juristisch sind Journalisten davon ausgenommen – was aber kaum bekannt ist.
Am schlimmsten sind Abi-Fotos. „Man glaubt gar nicht, wie viele sich daran stören", sagt Anja Clemens-Smicek, Chefin vom Dienst bei der „Aachener Zeitung" und den „Aachener Nachrichten". Früher sei es normal gewesen, komplette Abitur-Jahrgänge zu fotografieren und mit vollem Namen ins Netz zu stellen. „Das machen wir schon lange nicht mehr", sagt Clemens-Smicek, denn solche Aufnahmen sorgten regelmäßig für Ärger. „Manche fragen nach einigen Jahren freundlich nach, ob wir ihre Namen löschen, andere drohen direkt mit dem Anwalt."
Argumentiert wird in solchen Fällen gerne mit dem sogenannten Recht auf Vergessenwerden, das seit dem Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Mai 2018 europaweit gültig ist. Artikel 17 („Recht auf Löschung") soll Betroffenen helfen, die Souveränität über ihre persönlichen Daten zurückzuerlangen. Ein peinliches Foto, ein blöder Kommentar, eine politische Äußerung: Was einmal ins Netz gestellt wurde, soll nicht mehr auf alle Zeit abrufbar sein. Ein Radiergummi für digitale Daten.
Radiergummi für digitale Daten
Journalisten sind von diesem Passus explizit ausgenommen. Die Regelung bezieht sich – so jedenfalls die einschlägige Auslegung – vor allem auf Suchmaschinen. So filtert etwa Google bestimmte Ergebnisse aus seinen Suchlisten heraus, sofern vorher ein erfolgreicher Lösch-Antrag gestellt wurde. Journalistische Artikel werden über diesen Umweg womöglich nicht mehr gefunden. An der Quelle – also etwa im Online-Archiv einer Zeitung – existieren die Texte aber weiterhin. Sie fallen unter das sogenannte Medienprivileg. Das Problem: Fast niemand, der einen alten Artikel über sich gelöscht haben möchte, hat von diesem Privileg schon einmal gehört – oder möchte absichtlich nichts davon wissen.
So auch in Aachen. Etwa zwei- bis dreimal im Monat gehe beim Verlag ein Löschantrag ein. „In der Region ist vor einiger Zeit eine große Firma in die Insolvenz gegangen", erinnert sich Clemens-Smicek. Inzwischen sei das Unternehmen saniert und wolle die unangenehme Phase gerne hinter sich lassen. „Das gehört aber zur Vergangenheit dazu und ist journalistisch relevant", erklärt die Chefin vom Dienst. Der Text sei daher im Archiv geblieben. Bei Privatleuten sei man hingegen kulanter: „Wenn jemand vor ein paar Jahren bei einer Straßenumfrage etwas über eine Partei erzählt hat, heute aber gar nicht mehr in der Partei ist –
natürlich nehmen wir das dann raus."
Wie Medien mit Löschanträgen umgehen, ist höchst unterschiedlich. So erklärt etwa der „Spiegel"-Verlag, dass man solche Anfragen grundsätzlich ablehne. Axel Springer verweist auf das Medienprivileg – konkrete Zahlen, wie viele Löschanträge gestellt und wie viele davon bejaht werden, möchte der Verlag aber nicht nennen. Für den Deutschen Journalistenverband (DJV) ist das Recht auf Vergessenwerden im redaktionellen Alltag ohnehin nebensächlich. „Journalisten sind ja ausdrücklich davon ausgenommen", bekräftigt DJV-Sprecher Hendrik Zörner. Bildjournalisten hätten hingegen verstärkt mit Schwierigkeiten zu kämpfen: So gebe es immer mehr Passanten, die in der Öffentlichkeit nicht mehr fotografiert werden wollten. „Sie denken, die DSGVO decke alles ab."
Andere Redaktionen haben deutlich mehr zu tun. So etwa die „Augsburger Allgemeine": „Bei uns gehen im Schnitt mehrere Anträge pro Woche ein", sagt der stellvertretende Digitalchef Niklas Molter. Das Spektrum reiche von unliebsamen Partybildern und Vereinsberichten bis zu ehemaligen Teilnehmerinnen von Miss-Wahlen. „Wir prüfen jeden Fall individuell und mit Blick auf die presserechtlichen Richtlinien", sagt Molter. „Wenn wir etwa bei Gerichtsprozessen die Tür für Geschichtsfärberei einmal aufstoßen, geht sie nicht mehr zu."