Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft bei der Bahn eine große Lücke. Mit einem Milliardensegen will der Bund dies ändern.
Über einen Mangel an amüsanten wie schaurigen Anekdoten kann sich die Deutsche Bahn nicht beklagen. So beantwortete der Zugbegleiter im ICE die Frage eines Fahrgastes schlagfertig. „Ist die W-Lan-Verbindung bis Dortmund durchgängig?", wollte der Passagier wissen. „Seien Sie froh, wenn die Gleise bis Dortmund durchgängig sind", erwiderte der Schaffner und zeichnete damit ein zwar überspitztes, aber durchaus treffendes Bild des Schienenverkehrs dieser Tage. Das ist die eine Seite.
Die andere ist die Arbeit an einer besseren Bahn. Der für die Infrastruktur verantwortliche Bahnvorstand Ronald Pofalla zündet sich vor dem Eingang des Bundesverkehrsministeriums erleichtert eine Zigarette an. Drinnen, im beeindruckend großen Atrium des Hauses, beglückwünschen sich gerade Parlamentarier, Staatssekretäre, Bahnmanager und Minister zu einem Kraftakt, mit dem dem Unternehmen aus der Misere geholfen werden soll. Es gibt Häppchen und Saft, zufriedene Gesichter. Auf dem Tisch im Zentrum liegen noch vier Exemplare eines 500 Seiten umfassenden Vertrags, den Pofalla gerade mit unterschrieben hat, die so genannte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LUFV).
Bis 2030 doppelt so viele Fernreisende wie heute
Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Bahn, Bundesregierung und Parlament ist es dem früheren Kanzleramtsminister gelungen, so viel Staatsgeld für die Bahn herauszuholen wie noch nie. 86 Milliarden Euro gibt es in diesem Jahrzehnt vom Bund für den Erhalt der Infrastruktur. Rund 2.000 Brücken sollen damit saniert, jährlich 2.000 Kilometer Gleis erneuert, Bahnhöfe barrierefrei gestaltet, Weichen erneuert und Baustellen kundenfreundlich gemanagt werden. „Ich garantiere: Wir schaffen das", verspricht Pofalla. Vom Bund gibt es 62 Milliarden Euro, die Bahn trägt 24 Milliarden Euro zur Sanierung bei.
Und das ist nur ein Teil des Geldregens, der sich über den Staatskonzern ergießt. Die Finanzierung des Schienensystems ist für den Laien schwer zu durchschauen. Die LUFV ist der größte Brocken. Aus diesem Topf bezahlt der Bund die Instandhaltung des 33.000 Kilometer langen Netzes. Dazu gibt es Gelder aus dem Bundesverkehrswegeplan, dem Gemeindeverkehrs-Finanzierungsgesetz und weiteren Quellen. Wichtig sind noch die Regionalisierungsmittel in Höhe von fast neun Milliarden Euro. Dieses Geld erhalten die Länder, die davon ihren Regionalverkehr bezahlen.
Die gewaltigen Summen kann sich kaum ein Normalbürger vorstellen. Eine kleine Rechnung zeigt, was sie bedeuten. In diesem Jahr kann Pofalla 12,2 Milliarden Euro ausgeben. Das bedeutet ein enormes Baustellenmanagement, angefangen von 800 Bahnhöfen, über die Gleisanlagen und Bauwerke bis hin zur Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm. Jeden Tag werden rechnerisch Leistungen im Wert von 33 Millionen Euro eingekauft, überprüft, geplant oder abgenommen. Alleine für die Planung, Ausschreibung und Abwicklung der Aufträge wurden 4.500 neue Stellen bei der Bahn eingerichtet. Das alles zeigt den Nachholbedarf im Schienenverkehr. „Wir haben eine Dekade des Aufräumens vor uns", glaubt Oliver Wolff, der Chef des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).
Dabei haben Politik und Bahn selbst große Ziele vorgegeben. „Starke Schiene" nennt sich das ambitionierte Programm. Bis 2030 soll sich die Zahl der Fernreisenden fast verdoppeln. 150 Millionen waren es im vergangenen Jahr. In diesem Jahr erwartet Bahnchef Richard Lutz allein durch die um zehn Prozent gesenkten Ticketpreise fünf Millionen zusätzliche Passagiere. Auch für den Nahverkehr sind die Ziele anspruchsvoll. Aus bisher 3,5 Milliarden Nutzern im Jahr sollen 4,5 Milliarden werden. Der Blick in die gewünschte Zukunft des Schienenverkehrs ist verheißend. Lange Wartezeiten zwischen den Abfahrten gehören der Vergangenheit an. Denn der geplante „Deutschlandtakt" verbindet die Metropolen im Stundentakt, oder sogar alle 30 Minuten. Angekommen, warten am Ziel schon die Regionalzüge für die Weiterfahrt in die kleineren Städte. Alle Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern sind an das Fernverkehrsnetz angebunden.
Soweit die Theorie. Die alltäglichen Erfahrungen der Reisenden und die wohligen Aussichten der Politiker passen auf den ersten Blick nicht recht zusammen. Die Kunden müssen sich mit vielen Verspätungen und überfüllten Zügen abfinden. Jeder vierte Fernzug ist unpünktlich. Von einem „Kampf um jede Minute mehr Pünktlichkeit" sprechen Bahnmanager gerne, wenn es um den Abbau der Verspätungen geht. Es geht um viele kleine wie große Stellschrauben, an denen sie drehen können. Recht erfolgreich sind zum Beispiel Plankorridore, die es zwischen Mannheim und Fulda, Würzburg und Nürnberg und in diesem Jahr auch rund um Hamburg gibt. Das sind die Stellen im Netz, die als Ausgangspunkte für etliche Verspätungen identifiziert wurden. Ein spezielles Management für die Baustellen dort verhindert Verspätungen, was sich kurz darauf im gesamten Netz positiv bemerkbar macht. Doch überlastete Knotenpunkte wie Hamburg, Köln oder Frankfurt machen den Bahnern immer wieder einen Strich durch die Rechnung.
Die Bahn als Klimaretter?
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) befasst sich lieber mit einer strahlenden Zukunft des Bahnverkehrs als mit der heutigen Misere. „Es wird ein Jahrzehnt der Schiene", versichert er, nachdem er seine Unterschrift unter das Vertragswerk LUFV gesetzt hat. Sein Kabinettskollege Olaf Scholz, der die Milliarden als Finanzminister aufbringen soll, glaubt auch an die Bahn als Klimaretter. Sollte das Geld etwa wegen der Preissteigerungen beim Bau von Brücken und Gleisen nicht ausreichen, deutet er Verhandlungsbereitschaft an. „Mein Herz ist weit offen", sagt der SPD-Politiker. Zumindest im innerdeutschen Verkehr soll die Bahn das Klima retten und bisherige Flugreisende und Autofahrer in die Züge locken. Schon jetzt fährt der ICE mit Ökostrom. 2038 sollen dann alle Elektroloks mit regenerativen Energien betrieben werden. Das Datum fällt nicht zufällig mit dem Kohleausstieg zusammen. Die Bahn hat mit Betreibern von Kohlekraftwerken langfristige Lieferverträge abgeschlossen. Auskünfte dazu gibt das Unternehmen nicht.
Doch das derzeit einzig Verlässliche an der Bahn ist, dass auf gute Nachrichten schnell eine schlechte folgt. Diesmal trifft es die Bahnindustrie, genauer gesagt den Hersteller Bombardier. Mit neuen Intercity-Zügen will die Deutsche Bahn ihr Angebot ausweiten. Doch die zweite Generation der vom kanadischen Hersteller Bombardier gelieferten Fernzüge hat so gravierende Mängel, dass die Bahn nun die Abnahme von 25 Exemplaren verweigert.
Immer wieder stürzt die Software ab. Der Lokführer muss eine Stunde vor Fahrtantritt bereit stehen, um den Bordcomputer rechtzeitig hochzufahren. Die vor allem in Südwestdeutschland eingesetzte Zugreihe hat mit ihren Ausfällen für Verspätungen im gesamten Netz gesorgt. Nun platzte Einkäufern der Kragen. Dabei werden Kapazitäten dringend benötigt, um den Ansturm der Passagiere zu bewältigen. Bleibt zu hoffen, dass die bestellten 100 ICE-Züge frei von Mängeln ausgeliefert werden.
Das Beispiel verdeutlicht, an wie vielen Kleinigkeiten die schönen Pläne scheitern oder zumindest ausgebremst werden könnten. Und Probleme gibt es noch weit mehr. Sie sind nicht von heute auf morgen entstanden, sondern Ergebnis einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des Schienenverkehrs in Deutschland, dem Autoland. Für die Pflege der Trassen war nie genügend Geld da. Viele Brücken stammen noch aus dem 19. Jahrhundert. Nach und nach stieg damit der Nachholbedarf an. Fahrgäste wurden im Bahndeutsch noch bis zur Bahnreform 1994 als „Beförderungsfälle" bezeichnet. Mit der Reform, die den Staatsbetrieb in eine privatwirtschaftliche Aktiengesellschaft umwandelte, sollte das Unternehmen auf Effizienz getrimmt werden. In den Jahren davor verzeichnete die mit der DDR-Reichsbahn zusammengelegte Bundesbahn 25 Millionen Euro Verlust – jeden Tag. Mit der Reform wurde das neue Unternehmen entschuldet. Im Hinterkopf hatten Politiker die Privatisierung des Bahnverkehrs.
Der Konzern muss Tausende Fachkräfte rekrutieren
Ende 1999 hob der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Manager Hartmut Mehdorn in den Chefsessel der Deutschen Bahn. Dessen Hauptaufgabe wurde der Börsengang des Konzerns, mit Ausnahme des Netzes, für das der Bund per Gesetz verantwortlich bleiben muss. Mehdorn gilt vielen Bahnkritikern als Hauptverantwortlicher der aktuellen Misere, weil er mit Blick auf den Finanzmarkt ein gewaltiges Sparprogramm in Gang brachte. So wurden 5.000 Kilometer Gleise abgebaut, darunter etliche wichtige Paralellgleise, auf denen langsamere Züge die Durchfahrt schnellerer abwarten können. Ihr Fehlen macht sich heute schmerzlich bemerkbar. Auch wurden viele Städte vom Fernverkehr abgetrennt. Die Blütenträume von der Börse zerplatzten endgültig mit der Finanzkrise 2008 endgültig. An der Hypothek der Ära Mehdorn knabbert der Konzern noch heute.
Es könnte bald zu einer großen Rolle rückwärts kommen. Denn die Bahn ist hoch verschuldet und braucht für die Investitionen auch aus eigenen Mitteln viele Milliarden. In diesem Frühjahr wird wohl als erstes Arriva veräußert. Ein Börsengang in den Niederlanden wird vorbereitet. Als nächstes steht vielleicht Europas größte Spedition, Schenker, auf der Verkaufsliste. Zumindest schließt der Schienenbeauftragte der Bundesregierung, Enek Ferlemann, einen Verkauf nicht aus.
Mit der zeitweilig tristen Vergangenheit und Gegenwart befasst sich Scheuer ungern. Der Minister blickt lieber nach vorne und schwärmt vom gelungenen finanziellen Kraftakt. „Davon profitieren die Fahrgäste maximal", ist sich Scheuer sicher. Wann das der Fall sein wird, will er freilich nicht versprechen. Bahnchef Lutz dämpft schon einmal die Erwartungen. Die Bahn werde nicht über Nacht besser, sagt er.
Für die Kunden heißt dies, vorerst geduldig volle oder verspätete Züge in Kauf zu nehmen. Das wird wohl in drei, vier Jahren der Fall sein. Bis dahin warten noch viele andere Aufgaben auf die Bahn. Der Konzern soll seine Strukturen verschlanken. So will es die Politik. Fachkräfte müssen zu Tausenden rekrutiert werden, weil viele Bahner in den Ruhestand gehen und das Angebot ausgeweitet wird. Allein in diesem Jahr stehen 22.000 Neueinstellungen im Plan.
Zur Diskussion stehen auch der Konzern und sein Spitzenpersonal, wenn die Dampflok nicht genügend Fahrt ausnehmen sollte. Verkehrsminister Scheuer will im März eine parteiübergreifende Grundsatzdiskussion über die Zukunft der Bahn einleiten. „Wir brauchen einen nationalen Schienenkonsens", sagt er. Eines wird dabei jetzt schon deutlich. Die Politik will künftig viel stärker auf die Unternehmenspolitik Einfluss nehmen. Die Bahn wird wieder ein echter Staatsbetrieb.