Das „Erdbeben von Thüringen“ hat sich auf der ganz traditionellen Bühne des Landtags zu Erfurt abgespielt. Dahinter steht ein Wahlergebnis, das die neue Zersplitterung der politischen Landschaft mit dem Niedergang der Volksparteien überdeutlich gezeigt hat.
Über Jahrzehnte bestand die große Leistung der Volksparteien darin, den Interessenausgleich zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb unserer Gesellschaft zu organisieren. Dies scheint im digitalen Zeitalter nicht mehr zu funktionieren. Doch warum scheitern die großen Organisationen von SPD und zunehmend auch der Union, deren Hauptaufgabe der gesellschaftliche Diskurs ist, offensichtlich daran, eben diesen zu führen?
In einer Zeit, in der nahezu alle technischen Hürden der Kommunikation gefallen sind, scheint es geradezu absurd, dass die Spezialisten der Volksparteien es nicht schaffen, die technischen Möglichkeiten zu nutzen, um auf breiter Basis Kompromisse in der Gesellschaft auszuhandeln. Auf der anderen Seite hingegen profitiert mit der AfD eine Partei, deren einziges stringentes politisches Konzept darin besteht, die Gesellschaft in Gruppen aufzuspalten und diese gegeneinander aufzuwiegeln.
Fehleinschätzung „Sozialer Medien“
Inzwischen bewegt sich eine deutliche Mehrheit der wahlberechtigten Deutschen auf Facebook, Instagram, Youtube und TikTok. Dennoch soll es für die erfahrenen Medienabteilungen der Volksparteien nicht möglich sein, auf diesen Kanälen die potenzielle Wählerschaft zu erreichen, während eine rechte Splitterpartei mit bestenfalls amateurhafter Medienkompetenz leichtes Spiel hat und zum Scheinriesen mutiert, der die Agenda setzen darf und weit über seine Wirkmächtigkeit den öffentlichen Diskurs bestimmt? Die Antwort auf diese Fragen liegt in der kompletten Fehleinschätzung dieser selbst ernannten sozialen Medien. Noch immer gelten Facebook und Co als Technologieunternehmen, die lediglich eine Plattform zum Verbreiten von Medieninhalten bereitstellen, und den dahinterstehenden Konzernen ist viel daran gelegen, die Mär vom neutralen Kanal aufrechtzuerhalten, um der Regulierung zu entgehen, derer sich Medienkonzerne mit einer Reichweite von mehreren Milliarden Menschen eigentlich unterwerfen müssten. Der Unterschied zwischen Plattform und Medienunternehmen zeigt sich, wenn man sich echte technische Plattformbetreiber ansieht: Der Rundfunksatellitenbetreiber Astra beispielsweise hat ein einfaches Geschäftsmodell. Er unterhält Satelliten im geostationären Orbit über Europa und die Infrastruktur, um Fernseh- und Radiosignale darüber zu übertragen. Seine Kunden sind die Sender, an die er die Sendeplätze vermietet. Ob Endkunden diese Sender wirklich konsumieren, darauf nimmt Astra keinen Einfluss, denn für die Inhalte sind die Sender verantwortlich. Die Sender sind Medienunternehmen, die kuratierte Inhalte an die Konsumenten ausliefern und daher ein Interesse daran haben, ihr Programm so interessant zu gestalten, dass viele Menschen es möglichst lange konsumieren. Bei den Inhalten sind den Sendern dann strenge regulatorische Grenzen gesetzt, um gesellschaftlichen Schaden abzuwenden. Ganz anders sieht es etwa bei Facebook aus. Facebook verwendet die Infrastruktur von verschiedensten Internetprovidern, um selbst kuratierte Inhalte an seine Nutzer zu verteilen. Facebook selbst ist also das Medienunternehmen. Dass die Inhalte dabei meist nicht von Facebook selbst stammen, spielt keine Rolle, denn die Entscheidung, was wann welchem Nutzer gezeigt wird, fällt Facebook und tritt damit ganz klar als Medienunternehmer auf – allerdings als einer, für den die strenge Regulierung nicht gilt.
Hass, Lügen, Propaganda oder Kätzchenvideos – gezeigt wird, was die Nutzer möglichst lange in den Apps des Konzerns hält. Dabei haben die großen Internetmedienkonzerne ihre Algorithmen inzwischen auf unmoralische Weise derart optimiert, dass die Zusammenstellung der Inhalte eine maximale Suchtwirkung entfaltet, indem sie sich psychologische Eigenheiten des Menschen zunutze machen. Wer heute in seinen Facebookstream schaut, wird höchstwahrscheinlich eine eng auf seine eigenen Vorlieben und Abneigungen angepasste Zusammenstellung von Postings finden, die der Identifikation mit der eigenen Gruppe dienlich sind, und hin und wieder einen eingestreuten „Aufreger“, mittels dem man sich von „den anderen“ abgrenzen kann. Neben den Inhalten an sich werden auch die Abfolge und der Zeitpunkt, wie wir die Inhalte vorgesetzt bekommen, von Facebook akribisch geplant.
Diskurshoheit wiederherstellen
Von der täglichen Endorphindusche durch Likes und Kommentare als würzender Zusatz ganz abgesehen, ist die gruppenbezogene Segmentierung das Grundübel der sogenannten sozialen Medien und die Axt am Stamm der Demokratie. Solche Segmente sind zwar essenziell für das Geschäftsmodell dieser Firmen, denn gerade sie ermöglichen eine nahezu obszön zielgerichtete Werbung; sie sind aber gleichsam Gift für die freiheitliche Demokratie, die auf dem Aushandeln gesellschaftlicher Kompromisse durch öffentlichen Diskurs basiert.
So verwundert es nicht, dass die einzigen politischen Nutznießer dieser Geschäftsmodelle solche Gruppierungen sind, die auf Spaltung setzen und Kompromisse unterminieren, sei es Trump, die Brexiteers oder eben die selbst ernannte Alternative für Deutschland. Dies ist übrigens auch die Erklärung, warum die Piratenpartei, trotz aller vermeintlicher Digitalkompetenz, die sozialen Medien nie erfolgreich nutzen konnte – setzte die Partei doch stark auf neue Formen des Diskurses und gerade nicht auf gesellschaftliche Spaltung.
Was folgt daraus für die Volksparteien oder genauer für alle Parteien des demokratischen Spektrums? Es müssen ganz schnell Schritte eingeleitet werden, um die Diskurshoheit wiederherzustellen. Die sozialen Medien müssen einer strengen Regulierung unterzogen und für die ausgelieferten Inhalte und deren Zusammensetzung verantwortlich gemacht werden. Geschäftsmodelle, die auf gesellschaftlicher Spaltung und psychologischer Manipulation beruhen, müssen kriminalisiert, die Durchsetzung des individuellen Datenschutzes durch empfindliche Strafen garantiert werden. Danach beginnt die eigentliche Arbeit, alle neuen technischen Möglichkeiten des Diskurses zu nutzen, um eine barrierefreie, emanzipatorische Form des Interessenausgleichs zu entwickeln, der Fakten und Meinungen sauber voneinander trennt und so auch scheinbar unlösbare gesellschaftliche Konflikte verhandelbar macht, indem er eine große Mehrheit an der Entscheidungsfindung beteiligt.