Die 70. Berlinale hat viele neue Gesichter. Denn sowohl in der Festivalleitung als auch in einigen Sektionen haben die Verantwortlichen gewechselt. Einer von ihnen ist Michael Stütz, der neue Leiter des Panoramas.
Herr Stütz, wie sind Sie zur Berlinale gekommen?
Ich bin in Linz geboren, lebe seit 2005 in Berlin. An der Universität Wien und der FU in Berlin habe ich Theater-, Film- und Medienwissenschaften studiert. Nach dem Abschluss meldete ich mich für ein Praktikum beim Teddy-Award, das ist der queere Filmpreis bei der Berlinale, und lernte dort Wieland Speck, damals Leiter des Panoramas, kennen. Ein Jahr später wurde ich sein Assistent.
Die Berlinale hat eine neue Programmstruktur, was hat sich dadurch beim „Panorama" geändert?
Veränderungen in der Ausrichtung gab es eigentlich nicht. Wir haben das Programm konzentriert und gestrafft, jetzt laufen zehn Filme weniger als im Vorjahr. Es ist natürlich eine Herausforderung, mit einem deutlich kleineren Programm das gleiche Spektrum wie mit 50 Filmen abzudecken. Dafür mussten wir uns Gedanken machen und unseren Blick schärfen, um zu entscheiden: Was nehmen wir ins Programm, wo platzieren wir diesen oder jenen Film? Aber nun bin ich sehr zufrieden.
Wie viele Filme laufen im „Panorama"?
Wir haben 35 Filme – davon 26 Weltpremieren – aus 29 Produktionsländern. Es sind 23 Spielfilme und zwölf Dokumentationen. Stark vertreten sind dabei Koproduktionen und Filmschaffende mit Migrationserfahrung.
Wie kommen Sie an die Filme? Werden die eingereicht oder eingeladen?
Beides. Es gibt einen Einreichungsprozess, ich sichte mit meinem Team die Beiträge, das könnte ich nicht alles allein machen. Manchmal empfehlen mir meine Kollegen bestimmte Filme und wir diskutieren dann darüber. Ich reise auch relativ viel und habe einige Produktionen von Festivals mitgebracht. Manchmal schaue ich mir aber auch eingereichte Filme bei der Wettbewerbs-Sektion an, und wenn ein Beitrag gut ins Panorama passen würde, dann diskutiere ich das mit Carlo Chatrian und dem Auswahlgremium. Im Panorama haben wir mehr Flexibilität und Bewegungsspielraum, können auch Beiträge zeigen, die schon woanders liefen, was im Wettbewerb nicht geht.
Das hört sich fast danach an, als ob teilweise um die Filme gestritten würde …
Es gibt natürlich intensive Diskussionen, aber das gehört zu unserer Arbeit und zum künstlerischen Prozess. Im Gegenteil, durch die neue künstlerische Leitung hat sich eine frische Dynamik entwickelt, auch zwischen den anderen Sektionen.
Christina Nord ist ja auch neu als Leiterin des Forums. Es zeigte sich schon früh, wie wir beide ticken, welche Filme wir haben wollen. Bei Überschneidungen hat sich im Gespräch aber immer schnell herausgestellt, wo der Film besser aufgehoben ist. Mit einer konkreten Vorstellung, was in ihr Programm passt, hat Christina Nord ein Profil der Forum-Sektion entwickelt, das sich vom Panorama abgrenzt und eine gute Ergänzung ist.
Hat man bereits vorab Themenschwerpunkte im Blick oder entwickelt sich das erst beim Sichten der einzelnen Beiträge?
Wir gehen nicht mit einer vorgefestigten eigenen Ausrichtung an die Zusammenstellung des Programms heran, sondern lassen die Themen auf uns zukommen. Diese ergaben sich im ersten Drittel der Auswahlphase im Sommer vergangenen Jahres.
Die beiden ersten Beiträge, die ich gesehen habe, waren deutsche Filme. „Futur Drei" von Farnaz Shariar, wo es um eine queere und postmigrantische Perspektive in Deutschland geht, und „Schwarze Milch" von Uisenma Borchu, die nach ihren mongolischen Wurzeln sucht. Aus verschiedenen Blickwinkeln und einer kritischen Perspektive stellen sie Fragen nach dem Woher und dem Wohin. Heimat, Herkunft – diese Themen zeichneten sich schon bald ab, in einer solchen Konzentration wie selten in den letzten Jahren. „Exil" von Visar Morina, der Alltagsrassismus beleuchtet, kam dann im Herbst dazu. Für mich passte das perfekt zusammen.
Immer wieder beschäftigen sich auch Filmschaffende mit der Natur und deren Zerstörung.
Wir hatten dazu mehrere brasilianische Filme in der Auswahl, leider können wir nicht alle zeigen. Ich habe mich für „O reflexo do lago" von Fernando Segtowick entschieden, den ich auch ästhetisch sehr schön finde. Porträtiert werden Menschen, über die man ohne diese Doku nie etwas erfahren würde. Mir gefiel auch, dass die Haltung der Filmemacher auf der Bild- und Tonebene deutlich reflektiert wird.
Breiten Raum nimmt im Panorama ebenso der queere Film ein.
Wir haben einen starken Fokus auf queere Identitäten, wie eigentlich immer bei uns. Es sind gerade junge Leute, die sich mit dem Thema auf sehr kreative Art beschäftigen.
Sebastian Lifschitz stellt in „Petite fille" sehr behutsam und respektvoll die achtjährige Sascha vor, die sich ganz selbstverständlich als Mädchen empfindet, obwohl sie als Junge geboren wurde. Sehr inspirierend ist „Always Amber", ein Langzeitporträt der schwedischen Regisseurinnen Lia Hietala und Hannah Reinikainen. Sie begleiten zwei Teenager, die sehr selbstbestimmt eine queere Identität leben. Diesen Film werden wir wahrscheinlich auch im Rahmen der „Cross Section" bei „Generation 14plus" zeigen. Er eignet sich gut für ein junges Publikum, das ihn bei uns sonst nicht sehen könnte wegen der Altersbeschränkung.
Die Berlinale führt seit einigen Jahren ein Gendermonitoring in Bezug auf die Regie von Filmen durch, das heißt, es wird festgehalten, wie viele Filme von Männern beziehungsweise Frauen vertreten sind. Wie sieht es da beim diesjährigen „Panorama" aus?
Rund ein Drittel der Beiträge stammt von Regisseurinnen, zwei Drittel von Regisseuren. Das ist o.k., könnte aber besser sein. Wir denken das natürlich bei der Auswahl mit und hoffen, in den kommenden Jahren entscheidend näher an die 50 Prozent zu kommen.
Verfolgen Sie als gebürtiger Österreicher auch das dortige Filmschaffen?
Natürlich. Es gibt eine sehr aktive Filmszene, insbesondere beim Experimentalfilm, die sieht man oft bei den „Berlinale Shorts" oder im „Forum". Gefreut habe ich mich, endlich mal einen Film des Regieduos Tizza Covi und Rainer Frimmel im Programm zu haben, die mit „Aufzeichnungen aus der Unterwelt" dabei sind. Ein sehr spezieller Film, der in eine Welt eintaucht, die von der Öffentlichkeit wenig beachtet wird, ein Sittenbild österreichischer Nachkriegsgeschichte. Lisa Webers Dokumentation „Jetzt oder morgen" hinterfragt, was es bedeutet, als Außenseiter in einer leistungsorientierten Gesellschaft zu leben.
Eine lange Tradition haben die Publikumsgespräche beim „Panorama". Werden sie weitergeführt?
Selbstverständlich. Wie immer haben wir versucht, ihnen möglichst viel Platz einzuräumen. Diesmal wird es auch im Anschluss an die Vorstellungen im Zoo-Palast ein Q&A (Fragen und Antworten, Anm. d. Red.) geben. Das ist uns wichtig, weil wir Filme zeigen, die ein Anliegen haben, die diskutiert werden wollen. Das Publikum ist dafür sehr offen, es will starke Filme sehen, aber es will auch überrascht und herausgefordert werden. Dafür bieten wir eine Plattform. Manchmal sind die Filmschaffenden etwas nervös vor der ersten Vorführung und dem anschließenden Publikumsgespräch, dann jedoch immer total begeistert.
In diesem Jahr muss man sein Berlinale-Programm gut organisieren, denn die Wege zwischen den Spielstätten haben es in sich. Einige Kinos sind als Festivalorte hinzugekommen, andere wie das Cinestar im Sony-Center und die IMAX-Kinos sind weggefallen.
Ja, das hat uns hart getroffen. Unsere Haupt-Premierenkinos sind nach wie vor der Zoopalast, das Kino International an der Karl-Marx-Allee, das wir uns mit der Perspektive Deutsches Kino teilen, und das Cinemaxx 7 am Potsdamer Platz, in dem auch die neue Sektion Encounters ihre Premieren feiern wird. Dazu zeigen wir viele Wiederholungen im Kino Cubix am Alex. Das alles zu koordinieren war eine Herausforderung, aber wir haben zusammen eine gute Lösung für alle Sektionen gefunden.