Dr. Matthias Ponfick, Facharzt für Neurologie, leitet das Querschnittzentrum Rummelsberg nahe Nürnberg. Im Interview spricht er über Ursachen, Symptome, Erkrankungsverlauf, Behandlung und Therapiemöglichkeiten bei Querschnittlähmungen.
Herr Dr. Ponfick, was passiert bei einer Querschnittlähmung?
Eine Querschnittlähmung ist eine Störung, welche das Rückenmark betrifft. Dieses ist notwendig, damit Signale vom Gehirn in die Peripherie gelangen und von der Körperperipherie ins Gehirn. Da im Rückenmark auf kleinstem Raum Nervenzellen, Nervenausläufer, Leitungsbahnen und vieles mehr untergebracht sind, ist es nicht verwunderlich, dass zum Teil kleine Schädigungen große Auswirkungen haben. Außerdem ist das Rückenmark ebenso wie das Gehirn sehr empfindlich gegenüber Sauerstoffmangel. Nach Abklingen der akuten Schädigungsphase entsteht nach Wochen beziehungsweise Monaten oft eine Gliose (Narbe), und man sieht eine Verschmächtigung des Rückenmarkdurchmessers.
Was kann alles zu einer Querschnittlähmung führen?
Unfälle jeglicher Art, egal ob im Haushalt, in der Freizeit oder bei der Arbeit. Auch Verkehrsunfälle oder Stürze können zu einer Querschnittlähmung führen. Ebenso Erkrankungen wie zum Beispiel Tumorerkrankungen. Besonders das Prostatakarzinom des Mannes und das Brustkarzinom der Frau neigen zur Metastasierung in die Wirbelsäule und können hierdurch einen Querschnitt auslösen. Zusätzlich können sich Durchblutungsstörungen („Schlaganfall des Rückenmarks"), Entzündungen oder degenerative Veränderungen entwickeln, welche die gleiche Symptomatik auslösen.
Wie häufig kommen Querschnittlähmungen generell vor?
In Deutschland geht man von jährlich etwa 1.200 bis 1.500 neuen Fällen aus. Insgesamt sollen hierzulande mindestens 80.000 Menschen mit Querschnittlähmung leben, wobei andere Schätzungen von mittlerweile 100.000 Betroffenen ausgehen.
Welche Symptome zeigen sich bei einer Querschnittlähmung?
Motorische Einschränkungen (Lähmungen) unterschiedlichen Ausmaßes. Lähmungen können komplett (Plegie) oder aber inkomplett (Parese – mit Restbeweglichkeit) sein. Außerdem unterscheidet man zwischen schlaffer und spastischer Lähmung. Eine Spastik entsteht bei Schädigung des Zentralen Nervensystems (Gehirn und/oder Rückenmark) und führt zu unwillkürlichen Zuckungen der Arme und/oder Beine. Auch schraubstockartige Wahrnehmungen, schlechtere Beweglichkeit der Muskeln und Ungenauigkeiten von Bewegungen können hierdurch entstehen. Daneben gibt es Sensibilitätsstörungen. Diese können in „Plus- und Minussymptome" unterteilt werden. Ein Plussymptom sind zum Beispiel Schmerzen bei normalen Berührungen, so wird etwa Bestreichen der Haut als schmerzhaft empfunden. Minussymptome gehen einher mit einem Verlust an Funktion. So werden Berührung, Druck oder Temperatur weniger wahrgenommen. Dies führt zu einem hohen Verletzungsrisiko, da man zum Beispiel nicht bemerkt, dass es bereits zu Rötungen der Haut durch zu langes Liegen/Sitzen gekommen ist. Auch führt die Querschnittlähmung in fast allen Fällen zu einer Blasen- und Sexualitätsstörung. Die Blasenstörung kann mit Harnverhalt oder Inkontinenz einhergehen. Darüber hinaus ist der Darm oft betroffen, und es kann zu Durchfällen oder Verstopfung kommen. Es gibt noch weitere Symptome wie zum Beispiel fehlende Temperaturregulation durch fehlendes Schwitzen, reduzierte oder fehlende Blutdruckregulation durch fehlende Regulation der Arteriolenweite und vieles mehr. Aufgrund dieser Vielzahl an Symptomen ist es verständlich, warum Patienten mit Querschnittlähmung in ein Querschnittgelähmtenzentrum gehören, wo mit den entsprechenden Symptomen spezifisch umgegangen werden kann.
Es gibt tetraplegische und paraplegische Patienten. Was ist der Unterschied?
Bei tetraplegischen Patienten liegt eine Schädigung im Bereich des Rückenmarks im Halsbereich vor. Somit sind neben den Beinen auch die Arme betroffen. Bei paraplegischen Patienten liegt die Schädigung im Bereich der Brust- oder Lendenwirbelsäule. Hierdurch bleiben die Arme verschont.
Wie sieht der Erkrankungsverlauf aus?
Zunächst zeigt sich ein mehr oder weniger ausgeprägter spinaler Schock. Hier sind sowohl die Extremitäten als auch Blase und Darm schlaff gelähmt. Bei manchen Patienten ist der spinale Schock kurz, bei anderen länger. Danach folgt die spastische Phase in unterschiedlichem Ausmaß und je nach Höhe der Querschnittlähmung (unwillkürliche „Zuckungen" oder aber Spannungsgefühl). Betroffen sein können die Extremitäten, Bauchwand, Rücken und/oder Arme. Auch Blase und Darm können spastisch werden. Je nach Ausprägung kommen hier Medikamente oder operative Therapien infrage. Wobei man betonen muss, dass nicht jede Spastik behandelt werden muss. Teilweise kann man die Spastik zum Beispiel für Transfers einsetzen, was mit einer schlaffen Lähmung nicht möglich ist.
Wie sieht die Behandlung in der akuten Phase aus?
Das ist sehr unterschiedlich – je nachdem, ob man einen unfallbedingten Querschnitt erleidet oder einen erkrankungsbedingten. Bei einem Unfall kommt man zunächst idealerweise in ein Krankenhaus mit (Poly-)Traumaversorgung und dort wird untersucht, ob weitere Verletzungen zum Beispiel des Schädels/Gehirns oder anderer Skelettbestandteile beziehungsweise innerer Organe vorliegen. In manchen Krankenhäusern, zum Beispiel an den BG-Kliniken, ist oft ein Querschnittzentrum direkt im selben Krankenhaus, sodass eine frühe Verlegung auch beziehungsweie trotz Beatmung stattfindet, oder aber die Patienten werden möglichst früh in ein entsprechendes Zentrum verlegt. Hieran schließt sich die Erstbehandlung an. Die erste Prämisse ist es, das Überleben zu sichern und im weiteren Verlauf bei weiterer Stabilisierung zu versuchen, die gegebenenfalls notwendige Unterstützung durch Maschinen (zum Beispiel Beatmung) zu reduzieren beziehungsweise komplett beenden zu können. Hier wird bereits mit der Mobilisation begonnen. Außerdem beginnt man sehr früh mit einem querschnittspezifischen Blasen- und Darmmanagement. Daran schließt sich die Phase der zunehmenden Mobilisation und Hilfsmittelerprobung und deren Verordnung an. Die letzte Phase bereitet auf die Entlassung vor. Von Beginn an findet also in den Querschnittzentren zusätzlich zur akutstationären Behandlung eine intensive Beübung durch Therapeuten und Pflegekräfte statt.
Bei krankheitsbedingten Querschnitten ist es ähnlich, da sich diese klinisch nicht von einem unfallbedingten Querschnitt unterscheiden. Was natürlich meist entfällt, ist die Notwendigkeit einer vorherigen operativen Versorgung. Diese Patienten werden nach abgeschlossener Erstdiagnostik in ein Querschnittzentrum zur querschnittspezifischen Komplexbehandlung (Erstbehandlung) verlegt.
Welche Möglichkeiten gibt es in der Therapie/Reha?
Die durchgeführten Therapien werden mitunter durch die Höhe des Querschnitts, die Ausprägung, Nebenerkrankungen der Patienten und das Alter bestimmt. Generell sollte jedoch ein Querschnittgelähmter in einem Querschnittzentrum behandelt werden. Internationale Studien zeigen klar eine verminderte Komplikationsrate und ein besseres Outcome für jene, die in einem spezialisierten Zentrum behandelt wurden, und dies schließt die akute, postakute und rehabilitative Phase ein.
Wie sind die Chancen auf Heilung?
Der Begriff Heilung bei Querschnittlähmung ist schwierig. DIE Heilung gibt es bislang bei Querschnittlähmung nicht, da man auf Rückenmarksebene die Nervenzellen beziehungsweise deren Verbindungen nicht „reparieren" kann wie zum Beispiel bei einem gebrochenen Arm. Unser Nervensystem ist leider ziemlich träge, was die Reparatur eingetretener Schäden angeht. Lange Zeit vermutete man, dass es keine neuronalen Stammzellen (Zellen, aus denen neue Nervenzellen entstehen) gibt. Dies konnte zwar durch die Wissenschaft widerlegt werden, an der trägen Regenerationsfähigkeit ändert das jedoch nichts. Besserungen sind jedoch durch die intensive therapeutische Pflege, die hohe Therapieintensität und medizinische Versorgung durchaus gegeben. Diese sind jedoch zum einen natürlich mitunter von der Höhe, aber insbesondere von der initialen Ausprägung der Querschnittlähmung abhängig. Ein vollständig Gelähmter hat schlechtere Chancen einen alltagsrelevanten funktionellen Status zu erreichen als ein initial inkomplett Gelähmter. Auch ist natürlich die zur Querschnittlähmung führende Ursache eine wichtige Variable. Selbst wenn keine Besserung eintritt, heißt es nicht, dass der Patient als Pflegefall endet. Das Bestreben in den einzelnen Zentren liegt eben genau darin, dass mittels intensiver Therapie und Pflege Selbstständigkeit über Kompensationsmechanismen erlernt wird. So lernt zum Beispiel ein Paraplegiker das Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl unter Verwendung der Arme und über Stützgriffe. Flankierend können hier teilweise Hilfsmittel wie zum Beispielt Rutschbretter zum Einsatz kommen, wenn die eigene Kraft nicht ausreichend ist. Was natürlich ebenfalls intensiv adressiert wird, ist das Thema Mobilität. Daher findet intensives Rollstuhltraining statt, um Hindernisse wie Bordsteinkanten oder Rampen meistern zu können. Und bei der Rollstuhlmobilität gilt, je individueller der Rollstuhl an die Bedürfnisse des Patienten angepasst ist, desto besser ist die Mobilität. Die Hilfsmittelversorgung, die in den Querschnittgelähmtenzentren durchgeführt wird, ist generell hoch individuell und hört nicht beim Rollstuhl auf. So werden Stehtrainer, Antidekubitussitzkissen, WC-Stühle, Kontinenzprodukte und vieles mehr erprobt und bei Eignung und nach Erprobung verordnet, um Selbstständigkeit für den Betroffenen zu erreichen.
Welche Komplikationen kann es geben?
Diese sind leider mannigfaltig und bedürfen sowohl infrastruktureller als auch personeller Besonderheiten. Dekubiti (Wundliegegeschwüre) sind ein großes Problem. Hier ist die konsequente Entlastung geröteter Stellen durch intensive, engmaschige Lagerungsmaßnahmen notwendig. Das erfordert natürlich entsprechendes Personal im Bereich der Pflege und bei Therapeuten. Darüber hinaus können Thrombosen entstehen, die teilweise zu Lungenarterienembolien führen können.
Patienten, bei denen die Atmung beziehungsweise der Hustenstoß vermindert ist, neigen zu wiederkehrenden Lungenentzündungen. Durch Lagerungsmaßnahmen, besondere hustenstoßunterstützende therapeutische Manöver beziehungsweise Hilfsmittel kann man hier das Bronchialsekret besser mobilisieren, und der Patient kann leichter abhusten. Die Blasenfunktionsstörung kann eine Schädigung der Nieren hervorrufen und bei Nichtbehandlung zur Dialysepflichtigkeit führen, beziehungsweise können Harnwegsinfekte auch eine lebensgefährliche Urosepsis auslösen. Daher sollte in der querschnittspezifischen Komplexbehandlung eine videourodynamische Untersuchung stattfinden und der Patient neurourologisch behandelt werden. Daneben ist ein geregelter Abführrhythmus bei Mastdarmlähmung notwendig, um die Komplikation eines Darmverschlusses zu verhindern und zum anderen, um wie bei der Blasenentleerungsstörung eine sekundäre Kontinenz zu erreichen. Denn die Kontrolle über die Ausscheidungsfunktionen bedingt maßgeblich die Lebensqualität.
Fallen die Beeinträchtigungen in ihrer Art und Stärke bei jedem gleich aus oder gibt es große Unterschiede?
Hier gibt es sehr große Unterschiede. Zum Beispiel gibt es Rückenmarksyndrome, bei denen die Hände stärker betroffen sind als die Beine. Nur einzelne Patienten (wenige Prozent) weisen zum Beispiel keine Blasen- und/oder Mastdarmstörung auf.
Sind die meisten Patienten permanent auf die Hilfe anderer angewiesen?
Das kann man so allgemein nicht sagen. Zum einen kommen hier viele Faktoren zusammen. Das Alter, Nebenerkrankungen, häusliche Umgebung (Barrierefreiheit), Familienstatus, und so weiter spielen ebenfalls eine gehörige Rolle. Und dann natürlich die Höhe der Querschnittlähmung. Sind die Arme und Hände vollständig gelähmt, ist natürlich deutlich mehr Unterstützung durch andere erforderlich, wie wenn „nur" die Beine gelähmt sind. Auch kommt es darauf an, ob zum Beispiel eine Stehfunktion oder Gehfunktion trotz Lähmungen möglich ist, da dies natürlich den Alltag deutlich erleichtert.
Es gibt Erfahrungsberichte von Querschnittgelähmten, die ein paar Jahre später wieder gehen konnten. Wie häufig kommt so etwas vor?
Hier kann ich keine Zahlen nennen, aber es gibt wissenschaftlich belegte Faktoren, die eine Gehfähigkeit wahrscheinlicher machen. Das ist zum einen das Ausmaß der Querschnittlähmung (komplett/inkomplett), wobei inkomplette Querschnitte eine höhere Wahrscheinlichkeit besitzen. Darüber hinaus ist die Höhe eine wichtig Variable. Je niedriger der Querschnitt, desto besser, und es scheint, dass die Ursache der Querschnittlähmung eine gewisse Rolle spielt. Jedoch mag auch die Wahrnehmung bestimmter sensibler Reize, das Alter und die Summe der Kraftgrade an der unteren Extremität eine gewisse Vorhersagekraft hinsichtlich der Gehfähigkeit nach sechs Monaten zu haben, wobei sich Unterschiede zwischen Tetraparetikern und Paraparetikern ergaben.