Um Rückenmarksverletzungen zu heilen, wird weltweit viel geforscht. Dr. Doris Maier, Chefärztin am Zentrum für Rückenmarkverletzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau, schlüsselt auf, welche neuen Ansätze es gibt und ob diese vielversprechend sind.
Frau Dr. Maier, wie ist es hierzulande um die wissenschaftlich-medizinische klinische Forschung, die sich mit Querschnittlähmung befasst, bestellt?
Generell hat die Forschung im Bereich der Rückenmarkverletzungen ab Mitte der 90er-Jahre im deutschsprachigen Raum richtig Fahrt aufgenommen. Man hat in den letzten Jahren wesentlich mehr Erkenntnisse im Vergleich zu früher gewonnen. Damals musste man sich allein auf die klinische Erfahrung und auf die historische Überlieferung der Personen, die in der Szene tätig waren, wie etwa Sir Ludwig Guttmann (Neurologe und Neurochirurg, der die Grundlagen zur Behandlung von Querschnittgelähmten legte, Anm. d. Red.), verlassen. Querschnittgelähmten-Therapie ist ein sehr junges Feld, das sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete. Bis dahin sind Menschen mit einer Querschnittlähmung elendig zugrunde gegangen. Deutschland kann sich durchaus sehen lassen, denn wir sind hier sehr gut aufgestellt, was die Organisation der Versorgung und der Nachsorge, Therapie und Erfassung von validen Daten betrifft.
Wo steht die klinische Forschung zur Querschnittlähmung und Rückenmarkverletzungen im Jahr 2020? Gibt es noch viel zu erreichen?
Deutschland steht nicht schlechter da als der Rest der Welt. Wenn wir uns fragen, ob man zurzeit in Deutschland oder in anderen Ländern eine Rückenmarkverletzung oder -läsion heilen kann, muss man diese Frage klar mit Nein beantworten. Dennoch sind wir mit unseren Erkenntnissen deutlich weitergekommen. Wir können mittlerweile durch moderne Behandlungsverfahren bei inkomplett Gelähmten (das Rückenmark ist teilweise durchtrennt, Anm. d. Red.) viel bessere Ergebnisse erzielen. So haben wir deutlich mehr inkomplette Lähmungsbilder als früher. Aber: Wir sind von einer Heilung genauso weit entfernt wie alle anderen Länder auch. Querschnitt-Forschung ist nicht allein Sache eines Zentrums, eines Landes und eines Forschers. Aus vielen Gründen sind wir auf relativ große Fallzahlen und internationale Zusammenarbeit angewiesen.
Weltweit gibt es eine Vielzahl an Forschungsprojekten. Was sind aktuell die großen Herausforderungen auf dem Gebiet der Querschnitt-Forschung?
Wenn Sie danach fragen, wo es hakt, dann ist es die Situation, dass wir eine Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen haben, die aber niemals den Weg in die Klinik schaffen und damit niemals den Patienten erreichen. Das Problem ist die sogenannte Translation, wobei das Deutschland genauso wie das internationale Ausland betrifft. Meistens wird Grundlagenforschung von großen Geldgebern wie zum Beispiel der Deutschen Forschungsgesellschaft, der österreichischen Stiftung Wings for Life oder der US-amerikanischen Christopher Reeve Foundation finanziert, weil diese sich seit jeher auf Grundlagenforschung fokussieren. Das hat zur Folge, dass Forscher zwar ihre Grundlagen-Papers herausgeben, doch dann an der Übertragung in den Klinikalltag scheitern. Klinische Forschung bei Querschnittlähmung ist per se sehr langwierig. Sie können präklinisch im Tierversuch wesentlich strukturierter arbeiten und so zu den notwendigen Fallzahlen kommen, als wenn sie mit einer derart heterogenen Gruppe wie der der Rückenmarkverletzten arbeiten. Dadurch wird diese Forschung vor allem teuer und langatmig. Sie brauchen für eine Fragestellung mindestens drei Jahre. Deshalb ist diese Herangehensweise vielfach uninteressant für den Forscher, der nur von der Forschung lebt, aber auch für die Geldgeber.
2018 machte eine Forschergruppe der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne mit ihrer Stimo-Studie eine bahnbrechende Entdeckung. Mittels Elektro-Stimulation des Rückenmarks können Querschnittgelähmte wieder beweglicher werden. Könnte diese Therapie in Kombination mit intensiver Physiotherapie für eine größere Anzahl Querschnittgelähmter sinnvoll sein?
Ich denke, dass dies eines der vielversprechenden Projekte ist, das die Zielsetzung verfolgt, Neuroplastizität zu entfachen. Die Vernetzung des Nervensystems ist deshalb so wichtig, weil die Defekte überbrückt werden müssen. Verletzte Nervenfasern müssen quasi wieder ihre Partner finden – das nennt man Neuroplastizität. Wir wissen, dass das sowohl über Stimulationsverfahren als auch über Bewegungsansätze wie mittels Exoskelett und Laufband möglich ist. Die Kombination von Elektro-Stimulation und eines automatisierten Gangtrainings ist eine geniale Möglichkeit, weil man zwei unterschiedliche Ansätze an einem Patienten praktizieren kann.
Bis die Stimo-Studie abgeschlossen ist, wird es noch zwei Jahre dauern. Zu welchem Zeitpunkt mehr Patienten von dem Therapieansatz profitieren können, ist noch unklar. Wäre es da nicht sinnvoller, die Anstrengungen in der Querschnitt-Forschung zu bündeln, um so noch schneller mehr Betroffenen zu helfen?
Erstens muss die Frage der Finanzierung geklärt werden. Zweitens müssen diejenigen ausgebildet werden, die an mehreren Standorten operieren sollen. Wenn sie alle Patienten nach Lausanne schicken würden, dann stellt sich die Frage, wohin mit den Frischverletzten. Viele Probleme tauchen da auf, die bewältigt werden müssen, um so etwas auf breitere Füße zu stellen. Das ist nur möglich, wenn wir Forschungszentren schaffen, die diese Ansätze an einem Ort sowohl hinsichtlich Technologie, Forschung und Logistik umsetzen können. Wir nehmen am EMSCI-Projekt teil und arbeiten mit internationalen Zentren, neben Europa zum Beispiel auch in Indien, den USA und Kanada, zusammen. Seit Ende Oktober 2019 ist das NISCI-Projekt gestartet, das die klinische Phase-II-Studie des Nogo-Projekts von Prof. Martin Schwab von der Universität Zürich fortsetzt. Mit anderen Worten: Es ist eine Medikamenten-Erprobungsstudie, die auf einen neuen Schritt in der Forschung hoffen lässt.
Sie sind Leitende Ärztin am Zentrum für Rückenmarkverletzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau. Werden in Ihrem Zentrum therapeutische Ansätze praktiziert, die für andere Kliniken vorbildlich und nachahmenswert sein könnten?
Wir sind hier in Murnau hoffnungsvoll, dass uns das gelingt. Wir sind vor Kurzem eine Kooperation mit der Paracelsus Universität in Salzburg eingegangen, die eine sehr aktive Grundlagenforschung im Rückenmarkbereich betreibt. Wir haben schon viele Jahre gut zusammengearbeitet und setzen jetzt in unserem Kooperationsprojekt „ParaMove" vor allem auf einen translativen Ansatz.
Wir hoffen, durch die enge Verbindung von Grundlagenforschung und klinischer Wissenschaft einen großen Schritt voranzukommen.
In Spanien wird zurzeit danach geforscht mittels der frühzeitigen Gabe von Baclofen (Medikament das in der antispastischen Therapie eingesetzt wird, Anm. d. Red.), die neurologische Erholung von Patienten mit Querschnittverletzung zu fördern. Eine vielversprechende Therapie?
Baclofen ist das Mittel der Wahl, das fast jeder Querschnittgelähmte im Verlauf seiner Behandlung zur Reduktion von Spastiken einmal einnimmt. Gerade viele Frischverletzte bekommen das Medikament. Dr. John Kramer in Vancouver hat mit seinem Forschungsteam große Datensammlungen durchforstet und dabei geschaut, was manche Patienten im Krankheitsverlauf gemeinsam haben. Es interessierte ihn, ob sich Erkenntnisse im Outcome, also im Behandlungsergebnis, herausfiltern lassen, die sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Die Spanier haben sich da später eingeklinkt und ihre eigenen Dateien durchforstet. Dr. John Kramer ist nicht nur in diesem Zusammenhang auf das Baclofen gestoßen, sondern auch auf das Pregabalin, ein Antiepileptikum, das in der Schmerztherapie eingesetzt wird. Daneben hat man bei der systematischen Durchsicht dieser Datenbanken auch festgestellt, dass das Pregabalin eine Outcome verbessernde Wirkung hat. Diese Erkenntnisse müssen dann in systematisch angelegten Studien verifiziert werden. Qualitativ hochrangige Datensammlungen von integren Institutionen zu durchforsten und möglichst hohe Fallzahlen auf auffallende Gemeinsamkeiten hin zu überprüfen, stellt eine gute Möglichkeit dar, klinisch einsetzbare Erkenntnisse zu gewinnen. Unser Problem sind die Heterogenität der Patienten und mithin die geringen Fallzahlen einzelner Gruppen – damit hat Querschnitt-Forschung ein handfestes Statistik-Problem. Leider werden manchmal positive Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit bekannt gemacht, obwohl es sich dabei um Einzelfälle ohne statistische Haltbarkeit handelt. Ein Patient hat beispielsweise einen guten Behandlungsverlauf genommen, das ist schön für denjenigen, aber das bedeutet keinen wissenschaftlichen Durchbruch.
Blickt man nach Finnland, wird am Universitätskrankenhaus Helsinki eine neue Behandlungsmethode für inkomplette Querschnittgelähmte erprobt. Halten Sie das für einen zukunftsweisenden Ansatz?
Ich halte das für einen sehr guten Ansatz. Zum einen fokussiert man über Brain-Interface-Steuerung das Upper Motoneuron, und zum anderen steuert man über Elektro-Stimulation das der Peripherie zugewandte, das Lower Motoneuron an. Letztlich werden die beiden verbunden, das heißt man schafft eine technologische Brücke über das Leck im Rückenmark. Wenn es ausreichend funktioniert und ethisch haltbar ist, kann ich mich dafür sehr begeistern. Der Königsweg liegt in einem ethischen Zusammenspiel zwischen Grundlagenforschung und Technologie.
Nicht nur in der EU ist die Querschnitt-Forschung sehr rege, auch in den USA tut sich einiges. Da Querschnittgelähmte häufiger an einer Lungenentzündung sterben als die Durchschnittsbevölkerung, will man das angeborene Immunsystem der Betroffenen unterstützen. Könnte sich dieser Ansatz in Deutschland durchsetzen?
Infektionen spielen bei der Behandlung von Querschnittgelähmten eine große Rolle, vor allem bei der Blasen- und Darmentleerung müssen Katheter in den Körper eingeführt werden. Im Zusammenhang mit dem gestörten Immunsystem ist das auf Dauer ein Problem. Doch die USA sind auf diesem Gebiet nicht unbedingt führend. Der angesprochene Forschungsansatz ist auch keine Errungenschaft der US-Amerikaner, sondern er fußt auf Arbeiten von John Kramer/Vancouver und dem deutschen Neurologen Jan Schwab, die auch eine wissenschaftliche Kooperation verbindet. Allerdings gibt es in den USA ein Etliches mehr an Forschungsansätzen und eine Vielzahl an Rückenmarkforschern, was vor allem auch darauf beruht, dass es in den USA einen besseren Zugang zu Drittmitteln gibt. So unterhält man in den Vereinigten Staaten große Datenbanken und „digitale" Forschungskarteien, die weltweit alle wissenschaftlichen Projekte in der Querschnitt-Forschung publizieren, analysieren und zusammenfassen. Die immunologische Forschung ist gut, sie muss weiter fortgeführt werden, und dazu tragen wir auch mit unseren Daten bei.
Denken Sie, dass die sogenannte Neurorekonstruktion (Verfahren bei dem zerstörtes Gewebe durch Stammzellen und/oder Biomaterial ersetzt wird, um verletztes Rückenmarksgewebe zu reparieren, Anm. d. Red.) ein hoffnungsvoller Ansatz für Rückmarkverletzte und auch für Querschnittgelähmte sein könnte?
Auf jeden Fall. Immer wieder gab es Ansätze, vor allem mit Stammzellen, die durchaus hoffnungsvoll waren. Ich denke, dass diese Richtung gut ist, aber unser Problem dabei ist, dass wir die Reaktionsweise der gewonnenen und dann transplantierten Stammzellen zu wenig kennen. Zum einen weiß man nicht genau, wie man sie implantieren soll, damit sie stabil bleiben. Auch weiß man nicht, wohin man sie am besten implantiert und ob sie dort dann auch bleiben und nicht irgendwo innerhalb des Nervensystems Schaden anrichten. Zudem wissen wir nicht, wie wir sie stabil halten können. Die jüngste, sehr medienwirksame Publikation in dieser Richtung war die Injektion von aus dem Bauchfett gewonnenen Stammzellen in das das Rückenmark umgebende Hirnwasser. Wenn man die Studie kennt, weiß man, dass es mehr Fälle gibt bei denen diese Transplantation überhaupt nichts bewirkt hat. Allein bei einem veröffentlichten Patienten verbesserte sich der Gesundheitszustand und darüber wurde dann geschrieben. Ich halte sehr viel von der Neurorekonstruktion, allerdings hört man oft von Geschichten, die auf eine unseriöse Schiene rutschen.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es meiner Meinung nach bei dem Ansatz einer Heilung der Querschnittlähmung nicht die eine Methode, die eine Operation oder das eine Medikament geben wird. Ich bin mir nach langjähriger Berufserfahrung sehr sicher, dass ein multifaktorieller Ansatz der richtige Weg sein wird.
Das heißt, Forscher stoßen auch an die Grenzen des medizinisch Machbaren?
Derzeit haben wir keinerlei Möglichkeit die Querschnittlähmung zu heilen, aber wir haben viele moderne Ansätze, um die Patienten besser zu rehabilitieren und die selbst-reparativen Kräfte des Körpers richtungsgebend freizusetzen.