Die Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg ist deutschlandweit das einzige universitäre Zentrum, das sich in Krankenversorgung, Forschung und Lehre ausschließlich mit Querschnittlähmung und ihren Folgen befasst. Ein Einblick in den Alltag der Patienten und Therapeuten.
Man sieht es Stefan Schütz an, wie viel Mühe es ihn kostet, mithilfe der Physiotherapeutin den Transfer vom Rollstuhl auf die Behandlungsbank zu bewältigen. „Das hinzubekommen ist noch immer die größte Herausforderung, da fehlt mir einfach die Kraft", sagt der 59-Jährige.
Stefan Schütz ist einer der 120 bis 150 frisch Querschnittgelähmten, die pro Jahr an der Heidelberger Klinik für Paraplegiologie von der Akutphase, das heißt unmittelbar nach dem Eintritt der Querschnittlähmung, bis zum anschließenden Rehabilitationsprozess stationär behandelt werden. Vorrangig geht es in der Behandlung um das Wiederherstellen der Selbstständigkeit der Betroffenen. Welche physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen ausgewählt werden, hängt davon ab, in welcher Höhe das Rückenmark verletzt wurde und welchen Umfang die Schädigung hat – ob der Patient beispielsweise komplett oder inkomplett querschnittgelähmt ist oder ob die Atemfunktion beeinträchtigt ist. Sind noch motorische Restfunktionen erhalten, können funktionsorientierte Übungen zu signifikanten Funktionsverbesserungen führen. Gelingt das nicht, können mit einer adäquaten Hilfsmittelversorgung, wie beispielsweise der Umfeldsteuerung, ein Teil der verloren gegangenen Funktionen ausgeglichen werden.
Im Durchschnitt bleiben die Patienten drei bis vier Monate stationär in der Klinik. Abhängig von Begleiterkrankungen und Komplikationen häufig auch länger. Wie Stefan Schütz, der im Juli 2019 mit seinem Motorrad verunglückte. Unterhalb des fünften Halswirbels wurde das Rückenmark dabei so schwer geschädigt, dass er nun Tetraplegiker ist, ein an allen vier Gliedmaßen Gelähmter. Nach drei Wochen Intensivstation im Klinikum Ludwigsburg kam er im August in die Klinik für Paraplegiologie. Seitdem stehen für ihn täglich mehrere Stunden Physio-, Sport- und Ergotherapie auf dem Programm. Jede Therapieeinheit dauert 45 Minuten. Er kann aber auch selbst jederzeit trainieren und üben, zum Beispiel mit dem Handfahrrad.
Drei bis vier Monate bleiben die Patienten durchschnittlich in der Klinik
„In der Ergotherapie irgendetwas in die Hände zu nehmen, das ist sehr schwierig. Das größte Problem dabei ist, dass die Kraft fehlt", sagt der frühere Mechatroniker. „Er kann die Hand nach oben ziehen, er kann sie beugen und er kann locker lassen, aber er kann seinen Arm nicht mehr selbstständig gegen die Schwerkraft strecken", sagt Physiotherapeutin Karin Habert, die seit über sechs Jahren an der Klinik mit querschnittgelähmten Patienten arbeitet. Wie zum Trotz streckt Stefan Schütz seinen Arm und lächelt. „Mit einer Drehbewegung kann er das machen", erklärt Habert. „Das dem Patienten beizubringen, sind so die Dinge, die eine gute Physiotherapie ausmachen. Selbstständig kann er es allerdings nicht mehr, weil dieser Muskel nicht länger angesteuert werden kann. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Patient jetzt keinen Faustschluss machen kann – er kann die Finger nicht mehr bewegen. Es gelingt ihm zwar, die Hand hochzuziehen, aber sie fällt dann automatisch zu. Seinen Rollstuhl bewegt er über Druck, deshalb braucht er an den Handballen diesen Lederschutz. Er geht an die Greifreifen, streckt den Arm über eine Trickbewegung und schiebt den Rollstuhl so nach vorne. Es ist jetzt eine andere, eine kompensatorische Bewegung, die der Patient zusammen mit seinen Therapeuten erarbeitet".
Die Physio- und Ergotherapeuten versuchen, für jeden einzelnen Patienten das größte Maß an Selbstständigkeit herauszuarbeiten. Zu den ersten Übungen gehört der Transfer vom Bett in den Rollstuhl und vom Rollstuhl auf die Behandlungsbank. Patienten, bei denen die Lähmung durch eine Verletzung weit unten in der Wirbelsäule verursacht ist, tun sich damit leichter, denn sie können die Arme bewegen, heben mit den Händen die Beine über den Bettrand und schwingen sich im Armstütz in den Rollstuhl. Stefan Schütz kann sich im Bett nur schwer drehen.
Hochgelähmte wie er müssen sehr lange trainieren, bis der Transfer zuverlässig klappt und sie sich dabei auch sicher fühlen. „Im Bett mit einer weichen Matratze ist das natürlich deutlich schwieriger als auf stabilen Bänken", so die Physiotherapeutin. Stefan Schütz hatte in der Folge seines Unfalls mit Sekundärkomplikationen zu kämpfen. Bei der Wiederbelebung nach dem Unfall war eine Rippe gebrochen, was nochmals eine Operation erforderte, eine Bauchnarbe war nicht richtig verheilt, es kam zu einer Entzündung, und er musste lange liegen.
Gelenke und Muskeln werden bewegt und gedehnt
Im Verlauf des klinischen Aufenthalts finden sogenannte Perspektivengespräche statt. Dabei setzen sich alle beteiligten Berufsgruppen zusammen und besprechen mit Patient und Angehörigen die Perspektiven: Ist eine Rückkehr nach Hause möglich? Wie muss die Betreuung aussehen, wie viel Pflege braucht der Patient? Ist Laufen noch ein erreichbares Ziel? Die einzige Verwandte, die Stefan Schütz hat, ist seine Schwester. Nach seiner Entlassung wird er eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung brauchen. Eine passende Einrichtung hat er bisher noch nicht gefunden.
Auch Andreas Normann ist seit einem Autounfall Tetraplegiker und vom Hals abwärts komplett gelähmt. Er sitzt in seinem Hightech-Rollstuhl, bedient über Pusten und Ansaugen per Ansteuerungshilfe sein iPad und ist in wenigen Sekunden online. Seine Hände kann er dazu nicht mehr nutzen. Das, wofür andere Patienten in ähnlicher Lage sehr lange brauchen, hat er in sehr kurzer Zeit gelernt. „Wenn Herr Normann am Laptop arbeitet, macht er das so schnell, dass ich so flugs gar nicht mitgucken kann", sagt Ergotherapeutin Katharina Salomon.
Der 43-jährige Fachinformatiker hat seine Querschnittlähmung Anfang 2018 erlitten – die Folge eines tragischen Verkehrsunfalls. Die ersten drei Monate verbrachte er in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik in Ludwigshafen. Um aber näher am Wohnort seiner Eltern zu sein, wurde er ins Querschnittzentrum Heidelberg verlegt. Wie bei Stefan Schütz gehörte der Transfer vom Bett in den Rollstuhl und zurück zu den ersten physiotherapeutischen Übungen.
„In der Erstphase beobachten wir, wie sich die Funktionen entwickeln und arbeiten jeweils mit den Funktionen, die uns der Patient anbietet. Bei Herrn Normann haben wir den Transfer lange Zeit mechanisch mit einem Rutschbrett unterstützt", erklärt Physiotherapeutin Tanja Reichhold. „Das ging bei Herrn Normanns Gewicht tatsächlich nur mit zwei Therapeuten und war auch für ihn immer ein recht großer Aufwand. Wir haben auf der Behandlungsbank ausprobiert, inwieweit wir ihn über verschiedene Ausgangsstellungen motorisch herausfordern können, sodass motorische Verbesserungen entstehen. Der rechte Arm hat sich auch tatsächlich verbessert. Wenn Herr Normann auf der linken Seite liegt, kann er sich inzwischen mit der rechten Hand an der Nase oder an der Stirn kratzen. Da ist zwar keine Fingerfunktion, aber es funktioniert mit der Hand. Mehr Funktion ist in dieser ganzen Zeit leider trotzdem nicht zurückgekommen. Wir haben nach längerer Zeit entschieden, einen Lifter einzusetzen, weil der mechanische Transfer einfach zu viel Zeit und Aufwand bedeutet hat". Der Patient wird mittels eines Lifters mechanisch ins Bett oder den Stuhl transferiert.
Andreas Normann wurde Mitte Januar 2020 aus der Klinik entlassen und übergangsweise Gast im Kurt-Lindemann-Haus des Klinikums, bis der behindertengerechte Umbau seiner Wohnung abgeschlossen ist. Noch bekommt er zweimal pro Woche je 45 Minuten Physiotherapie auf der Behandlungsbank, es wird aber auch das Fahrradergometer für die Beine genutzt. „Wir bewegen die Gelenke, dehnen Muskeln, behandeln Strukturen, die bedingt durch muskuläre Dysbalancen überbeansprucht werden, sich verspannen und schmerzen, suchen nach Möglichkeiten, wie der Patient auch kleinste Bewegungen kompensieren kann. Da müssen wir immer dranbleiben", so die Physiotherapeutin.
Hilfsmittel machen ein fast normales Leben möglich
Außerhalb der Klinik benötigt Herr Normann eine 24-Stunden-Betreuung. „Bei den meisten Alltagsaktivitäten ist Herr Normann weiterhin auf Hilfe anderer angewiesen. Wo er uns aber bei Weitem überholt sind Umfeldkontrollsteuerung und PC-Ansteuerung. Mit solchen Dingen kann er relativ viel kompensieren, was die Teilhabe am sozialen Leben angeht. Uns hat natürlich zusätzlich in die Hände gespielt, dass wir hier einen IT-Fachmann vor uns sitzen haben. Es war in der Erstbehandlung sehr schön zu beobachten, als wir ihm eine Umfeldkontrolle gebracht haben, um das Ansteuern von Fernseher, das Umschalten von Radio, Anstellen von Telefon und solche Dinge mit ihm auszuprobieren. Er hat uns innerhalb von wenigen Tagen in unserem Fachwissen überholt. Das war ein bisschen so ein Selbstläufer – einmal eingewiesen, und schon hat er mir nach einer Woche schon Fragen gestellt, die ich ohne Telefonjoker von Außendienstmitarbeitern nicht mehr beantworten konnte. Was das angeht ist er sehr autark und selbstständig. Inzwischen ist Herr Normann so geschickt und fortgeschritten mit allen Systemen, die er hier nutzt, dass wir manchmal auf sein Know-how zurückgreifen und den Luxus genießen, dass wir ihn noch hier haben, und ich tatsächlich auch schon mal mit anderen Patienten zu ihm komme, um ihnen zu zeigen, was, wenn man sich damit befasst, tatsächlich alles geht", sagt Ergotherapeutin Katharina Salomon.
In seinem Bereich kann Andreas Normann immer noch eingeschränkt arbeiten dank der Tatsache, dass er den Computer mit dem Mund bedienen und ihn mit der Bluetooth-Funktion seines Rollstuhls zudem auch steuern kann. Vielleicht wird er von zu Hause aus freiberuflich in seinem alten Beruf arbeiten. Die Perspektiven stehen gut.