In der zurückliegenden Dekade sind spektakuläre Gehroboter in der Medizinprodukte-Technik entwickelt worden. Sie sind allerdings noch keine alltagstaugliche Alternative zum Rollstuhl, sondern werden vor allem als therapeutisches Reha-Hilfsmittel angesehen.
Endlich wieder aufrecht durchs Leben zu gehen, gewissermaßen wieder auf Augenhöhe mit allen anderen Menschen zu kommen, das ist für Querschnittgelähmte ein Traum, der dank modernster Technik realisierbar geworden ist. Die sogenannten Exoskelette machen das möglich. Die anziehbaren Außenskelette sind batteriegestützte und motorbetriebene Gehroboter. Der psychologische Effekt für die Paraplegie-Betroffenen ist gewaltig, Selbstwertgefühl und Lebensqualität können durch das wieder mögliche Aufstehen und die ersten vorsichtigen Schritte enorm gesteigert werden.
Bei aller verständlichen und nachvollziehbaren Euphorie darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich bei den Exoskeletten derzeit noch lediglich um ein hervorragendes therapeutisches Hilfsmittel handelt, das aber keinesfalls den Rollstuhl ersetzen kann. Und sonderlich alltagstauglich sind die Exoskelette auch nicht, weil die normalen Aufgaben im häuslichen Umfeld viel besser im Rolli sitzend bewältigt werden können. Ohne Aufsichtsperson besteht zudem das große Risiko eines Sturzes. Dessen Folgen kann der mit einem Exoskelett ausstaffierte Patient nicht ohne Hilfe beheben, weil ein selbstständiges Wiederaufstehen nicht möglich ist.
Weitere positiven gesundheitliche Aspekte des Exoskelett-Tragens wie Verbesserung der Magen-/Darmfunktion, des Herz-Kreislauf-Systems, der Knochendichte, des Gewebestoffwechsels, der Blutdruckregulation oder der muskulären Spannungssituation/Spastik sind wissenschaftlich bislang noch nicht belegt, beruhen vielmehr auf Einzelbeobachtungen oder Spekulationen, weil es bislang noch so gut wie keine aussagekräftigen klinischen Studien darüber gibt. Den Herstellerfirmen, die gerade mal das Start-up-Stadium hinter sich gebracht haben, fehlt dafür das nötige Geld.
Apropos Geld: Ein Exoskelett ist nicht gerade billig, weil samt den nötigen Schulungskursen Kosten zwischen 50.000 und 100.000 Euro anfallen. Die Erstattung durch die Krankenkassen ist derzeit noch etwas in der Schwebe, die Kassen behalten sich unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes die Prüfung jedes Einzelfalles vor. Ein erster Hoffnungsschimmer für Querschnittgelähmte, die an dem Hilfsmittel interessiert sind, war aber immerhin die Aufnahme eines Exoskelett-Systems der Firma ReWalk Robotics ins Hilfsmittelverzeichnis des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Sommer 2018. Seitdem kann die Kostenübernahme für dieses Exoskelett von ReWalk bei den Kassen beantragt werden. Neben ReWalk haben in Europa drei Konkurrenzprodukte der Unternehmen Ekso, Indego und HAL eine Zulassung durch die Kontrollstellen für Medizinprodukte samt CE-Kennzeichnung erhalten, in den USA erhielten alle vier Hersteller die Zulassung durch die zuständige Abteilung der staatlichen Gesundheitsbehörde FDA.
Die Idee zur Entwicklung des Exoskeletts stammt übrigens aus dem Tierreich. Gliederfüßler verfügen im Unterschied zu den Wirbeltieren nicht über ein Innen-, sondern nur über ein Außenskelett. Im Zuge der Bionik, dem Übertragen interessanter Phänomene der Natur auf die Technik, wurde das erste Exoskelett namens „Hardiman" vom Unternehmen Generel Electric Mitte der 1960er-Jahre für das US-Militär entwickelt. Die Soldaten sollten das Hunderte Kilo schwere Ungetüm mit seinen elektrischen und hydraulischen Armen und Beinen umschnallen, um dadurch Lasten von bis zu 700 Kilogramm in schwer zugänglichem Gelände transportieren zu können. Da sich schnell herausstellte, dass sich die Hardiman-Soldaten bestenfalls im Zeitlupen-Tempo bewegen konnten und daher im Gefecht eine perfekte Zielscheibe abgegeben hätten, kam das Projekt über das Prototypen-Stadium nicht hinaus. In der vergangenen Dekade wurde das Konzept der Exoskelette in der Industrie zur Erleichterung schwerer Montagearbeiten aufgegriffen und fand auch Eingang in den Medizinprodukte-Bereich.
Wobei das Gewicht der medizinischen Exoskelette im Vergleich zum militärischen Vorgängermodell natürlich erheblich reduziert wurde. Die neuen Laufanzüge aus rigiden Materialien wie Carbonfaser-verstärktem Kunststoff wiegen zwischen neun und 24 Kilogramm, sie erlauben kein natürliches, geschweige denn dynamisches Gehen, sondern lediglich eine roboterähnliche Schreitbewegung. Der Träger wird gewissermaßen gegangen, wobei es grundsätzlich zwei unterschiedliche, auf die Schwere der körperlichen Beeinträchtigung abgestimmte Systeme gibt, die alle vier Anbieter in ihrem Sortiment haben. Passive Systeme sind für Betroffene mit kompletter Lähmung (Plegie) die einzig infrage kommende Wahl, sie können den Bewegungsmechanismus durch Knopfdruck oder eine Gewichtsverlagerung auslösen. Bei einer inkompletten Querschnittlähmung (Parese) kann der Roboter bei einer Bewegungsintention dank Rest-Nervensignalen elektrische Muskelspannungs-Sensoren an den Beinen aktivieren und dadurch den Motormechanismus in Gang setzen. Die sogenannte Beinrestfunktion wird durch das Gerät unterstützt: Wenn ein Betroffener beispielsweise nur noch 30 Prozent der für einen Schritt nötigen Leistung beisteuern kann, übernimmt das Exoskelett die restlichen 70 Prozent. Das Unternehmen HAL bietet für Parese-Betroffene wohl das derzeit beste Hilfsmittel auf dem Markt.
Prinzipiell bestehen Exoskelette aus einem extern am Körper montierten Rahmen mit beweglichen Segmenten seitlich der großen Gelenke, deren Betrieb über verschiedene motorische Aggregate generiert wird. Angetrieben werden Exoskelette durch Batterien, deren Betriebsdauer zwischen einer und acht Stunden von den Herstellern angegeben werden und die neben dem steuernden Computer in einem Rucksack deponiert sind. Zum Gehen werden zusätzliche Hilfen wie Unterarmstützen oder eine absichernde Begleitperson benötigt, um ein Umfallen zu vermeiden. Die starren Exoskelette erlauben nur eine Bewegung von einer statischen Position zur anderen, seitliche Bewegungen oder gar das Drehen eines Beins sind damit nicht möglich.
Auch beispielsweise das Einsteigen in ein Auto ist damit nicht realisierbar. Nur mit reichlich Übung ist das Überwinden kleinerer Hindernisse wie Bordsteinkanten oder Stufen möglich, Treppensteigen sieht nur das ReWalk-Modell als theoretische Möglichkeit vor. Und etwa beim Einkaufen fehlt wegen der Armstützen jegliche Handfreiheit, im häuslichen Umfeld kann der Träger daher nicht mal eine Kaffeetasse anfassen. Auch in Sachen Geschwindigkeit ist die Rollstuhlnutzung den Exoskeletten haushoch überlegen. Vom Aufwand der langen Ab- und Anlegezeiten der Geräte ganz zu schweigen. Und schließlich sollte sich jeder Interessent darüber im Klaren sein, dass er einen erheblichen zeitlichen Aufwand zum Erlernen eines robotergestützten Gehgeräts investieren muss. Wobei nach bisherigen Erkenntnissen Patienten mit einer inkompletten Schädigung des Rückenmarks das Schulungsprogramm leichter bewältigen können als Betroffene mit kompletter Lähmung. Ohne Begleitperson sollte niemand einen Schritt mit den Gehrobotern wagen, worauf alle Hersteller nachdrücklich hinweisen. Zusätzlich gibt es Beschränkungen bezüglich Körpergewicht (100 bis maximal 113 Kilogramm), Körpergröße (150 bis maximal 200 Zentimeter), Femurlänge (Größe des Oberschenkelknochens) und der Hüftbreite. Berücksichtigt werden muss auch das Risiko unbewusster Überlastung des muskuloskeletalen Systems durch zu lange Tragezeiten. Auch wenn man beispielsweise bei ReWalk darauf verweist, dass ein Querschnittgelähmter mit optimaler Kondition und bester Schulung das Skelett den ganzen Tag benutzen könnte.
Alltagstauglichkeit kann den diversen Exoskeletten bislang noch nicht bescheinigt werden. Auf absehbare Zeit werden sie keine echte Alternative zum Rollstuhl darstellen. In der Reha werden sie jedoch als hervorragendes Hilfsmittel bei neurologischen Gangstörungen empfohlen. So lautet jedenfalls das Resümee eines von Dr. Daniel Kuhn und B. Freyberg-Hanl erstellten Fachbeitrags, der unlängst in einem Sonderheft des Springer Medizin Verlags erschienen war: „Selbstständige Alltagsaktivitäten können die Systeme noch nicht ermöglichen. Die etablierten Exoskelettsysteme werden nur für Rehabilitationseinrichtungen unter fachgemäßer Anwendung und Begleitung empfohlen."