Sepsis ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Häufig aber wird sie selbst von Ärzten übersehen. Welche Symptome sind zu beachten – und was ist im Notfall zu tun?
Jedes Jahr sterben in Deutschland mindestens 70.000 Menschen an einer Sepsis. Nach Schätzungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft erkranken pro Jahr etwa 125.000 bis 300.000 Patienten daran. Dennoch ist vielen der Begriff unbekannt. In einer 2017 durchgeführten Umfrage gaben vier von zehn Befragten an, den Ausdruck nicht zu kennen. Sepsis nennt man auch Blutvergiftung, und die ist genau wie ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall ein echter Notfall. Sie gilt als dritthäufigste Todesursache in Deutschland, nach Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und Krebs. Die wahre Zahl dürfte sogar deutlich höher liegen, weil Todesfälle durch eine Sepsis häufig nicht als solche dokumentiert werden. Und wie viele Menschen an Langzeitschäden leiden, wird überhaupt nicht erfasst.
Wie also kann sich eine Blutvergiftung entwickeln, welche Symptome treten auf und was ist im Notfall zu tun? Eine Sepsis entsteht, wenn krankheitserregende Keime von einem zunächst lokal begrenzten Infektionsherd wie Wunden, Fremdkörper, einem entzündeten Zahn oder auch einer Lungenentzündung ins Blut gelangen und dann über den Blutkreislauf den gesamten Körper überschwemmen. Meistens sind Bakterien, seltener Viren oder Pilze die Ursache. Jede Infektion kann grundsätzlich in eine Sepsis ausarten. Die größte Gefahr für eine Blutvergiftung besteht laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bei einer Lungenentzündung, gefolgt von Infektionen im Bauchraum und im Harnwegsbereich. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Immunabwehr des Körpers. Ist sie geschwächt, zum Beispiel durch die Einnahme von Medikamenten (Immunsuppressiva), durch eine Grunderkrankung wie Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Krebs oder nach einer Operation, steigt das Risiko einer Sepsis. Deshalb ist die Sepsis auf chirurgischen Intensivstationen besonders häufig und gilt in Krankenhäusern als wachsendes Problem. Auf der einen Seite gibt es immer mehr Risikopatienten mit einem geschwächten Immunsystem, zum anderen entwickeln sich durch die oft unkritische Anwendung von Antibiotika sogenannte multiresistente Keime, die sich kaum medikamentös bekämpfen lassen.
Weil bei einer Sepsis jede Minute zählt, ist es wichtig, die Symptome zu erkennen. In der ersten Phase der Blutvergiftung können bestimmte Veränderungen einen wichtigen Hinweis auf die Erkrankung geben. Da sie nicht spezifisch sind, ist das gemeinsame Auftreten der folgenden Symptome ein weiterer Hinweis darauf, dass eine Blutvergiftung vorliegen könnte. Dazu zählen etwa eine erhitzte Haut, manchmal gepaart mit Hautausschlag sowie hohes Fieber (über 38 Grad Celsius), oftmals in Verbindung mit Schüttelfrost. Vor allem sehr junge und sehr alte Sepsis-Patienten haben anstatt Fieber Untertemperatur (unter 36 Grad Celsius). Auch Verwirrtheit, beschleunigte Atmung und ein beschleunigter Herzschlag können Anzeichen einer Sepsis sein. Zudem ist die Zahl der weißen Blutkörperchen (Leukozyten), die für die Körperabwehr zuständig sind, bei den meisten Sepsis-Patienten erhöht. In schweren Fällen von Blutvergiftung kann der Leukozytenspiegel aber auch deutlich erniedrigt sein. Je nach Ort der Infektion treten häufig noch weitere Sepsis-Symptome auf. Bei Lungeninfektionen kann es beispielsweise zu Kurzatmigkeit und eitrigem Auswurf kommen und bei Harnwegsinfektionen zu Schmerzen beim Urinieren und verändertem Harngeruch. Auch infolge eines Insektenstiches wie etwa durch Mücken, Bienen oder Wespen kann es zu einer Sepsis kommen. Grundsätzlich löst der Insektenstich selbst zwar keine Sepsis aus, allerdings können Keime in den Körper gelangen, entweder direkt beim Stich durch das Insekt selbst oder wenn die Einstichstelle beispielsweise durch Kratzen gereizt wird. Die Sepsis-Stiftung rät, die 112 zu rufen oder direkt ins Krankenhaus zu gehen, wenn mindestens zwei dieser Symptome auftreten: Fieber oder Schüttelfrost, Verwirrtheit, schnelle Atmung, extremes Krankheitsgefühl und verfärbte Arme und Beine. Der bekannte rote Strich auf dem Arm ist übrigens kein notwendiges Anzeichen einer Sepsis. Er zeigt die Entzündung einer Lymphbahn an, die zu einer Sepsis führen kann. Er muss aber nicht zwingend bei einer Sepsis auftreten. Ganz im Gegenteil: Die meisten Sepsis-Patienten zeigen dieses Symptom nicht.
Innerhalb „Goldener Stunde" Überlebenschance bei 80 Prozent
Blutvergiftungen, die unbehandelt bleiben, führen zur Beeinträchtigung und schließlich zum Versagen verschiedener Organe. Hat die Blutvergiftung etwa auf die Leber übergegriffen, kann es zu Gelbsucht kommen, einer gelblichen Verfärbung der Haut.
Eine Sepsis kann die Nierenfunktion beeinträchtigen, wodurch der Patient immer weniger Harn ausscheidet – bis hin zu völligem Nierenversagen. Die Durchblutung verschlechtert sich, weil das Blut leichter gerinnt. So können kleine Gerinnsel die winzigen Blutgefäße verengen oder verstopfen. Die betreffenden Gewebe oder Organe erhalten dann nicht mehr ausreichend Sauerstoff. Auf diese Weise kann die Blutvergiftung Symptome hervorrufen, die durch den plötzlichen Ausfall des Organes gekennzeichnet sind, zum Beispiel Schlaganfall, Nierenversagen oder Herzinfarkt. In ihrer stärksten Ausprägung führt die Blutvergiftung zum beschriebenen septischen Schock. Auch bei intensivmedizinischer Behandlung liegt die Sterblichkeitsrate noch bei etwa 60 Prozent.
Deshalb ist eine frühzeitige und kompetente Behandlung der Sepsis besonders wichtig. Je früher die Diagnose und Therapie, desto besser die Aussichten auf eine vollständige Genesung. Bekommen Patienten innerhalb einer Stunde, nachdem die ersten Symptome aufgetreten sind, Antibiotika, liegt die Chance zu überleben bei etwa 80 Prozent. Ärzte sprechen deshalb von der „goldenen Stunde". Nach fünf Stunden liegen die Überlebenschancen bei etwa 42 Prozent. Beginnt die Behandlung erst nach 36 Stunden, überleben nur wenige Patienten.
Liegt der Verdacht auf eine Sepsis vor, müssen Ärzte den Patienten nicht nur möglichst schnell behandeln. Sie müssen für eine wirksame Behandlung der Sepsis auch genau wissen, mit welchem Erreger sie es zu tun haben. Die Standard-Therapie besteht darin, dem Patienten schnell ein Antibiotikum zu geben, ihn mithilfe von Infusionen ausreichend mit Flüssigkeit zu versorgen und den Herd der Infektion ausfindig zu machen und wenn möglich zu entfernen. „Wir haben gelernt, dass der Faktor Zeit eine große Rolle spielt. Während man früher gesagt hat, dass man ja erst mal eine Diagnose braucht, sagt man heute: erst mal was tun. Dann können wir uns immer noch kümmern. Wir können nicht warten, bis wir ein Röntgenbild haben. Wenn wir das klinische Zeichen einer Lungenentzündung mit einer Sepsis haben, dann müssen wir sofort agieren. Wir müssen sofort ein Antibiotikum geben, wir müssen sofort Volumen-Therapie betreiben. Und das können wir alles schon machen, während wir das Röntgenbild bestellen", erklärt es Frank Brunkhorst, Generalsekretär der Deutschen Sepsis-Gesellschaft, gegenüber Deutschlandfunk Kultur.
Spricht das Immunsystem auf ein Breitband-Antibiotikum nicht an, ist der Patient in großer Gefahr. Denn um den Sepsis-Erreger zu identifizieren, benötigen die meisten Labore in Deutschland Tage. Außerdem wird die Diagnose häufig durch lange Transportwege der Blutproben zu spezialisierten Laboren verlangsamt. Am Wochenende arbeiten diese oft gar nicht. In diesen Tagen aber kann der Erreger den Patienten schon schwer geschädigt oder gar getötet haben. Hinzu kommt, dass sich die Infektion nur bei etwa jedem dritten Patienten im Blutstrom nachweisen lässt.
Viel zu oft übersehen Ärzte eine Blutvergiftung
Die Krankenhaussterblichkeit bei einer Sepsis liegt in Deutschland bei 42 Prozent und damit deutlich höher als in anderen Ländern. In den USA beträgt sie beispielsweise nur 34 Prozent. Die, die überleben, sind häufig durch Hirnschäden oder Amputationen ihr Leben lang gezeichnet. Das Problem: Viel zu oft übersehen selbst Ärzte eine Blutvergiftung. „Wir haben ein Sepsis-Problem. Das haben wir schon lange. Die Daten, die ja alle Krankenhäuser abliefern müssen, haben gezeigt, dass die Häufigkeit der Fälle pro Jahr pro Einwohner in Deutschland stetig zunimmt und zwar nicht ein bisschen, sondern durchaus heftig. Das Problem ist aber schon lange bekannt. Auch vor zehn Jahren war die Sepsis schon häufiger als alle Fälle von Brustkrebs, Dickdarmkrebs und HIV zusammen. Das ist das Problem, dass keiner es irgendwie wahrnimmt", beklagt Hedwig Gerlach, Chefarzt am Klinikum Neukölln in Berlin, der sich seit 25 Jahren mit der Sepsis-Forschung befasst, im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
Einer, der das besser machen will, ist Matthias Gründling. Der Arzt leitet das Projekt „Sepsisdialog" an der Uniklinik Greifswald, das vor zehn Jahren startete. Seitdem wird das Personal regelmäßig geschult, eine Sepsis schnell zu erkennen und zu behandeln.
„Wir hämmern unseren Leuten ein, dass sie auch an eine Sepsis denken müssen, wenn beispielsweise eine verwirrte Patientin mit Verdacht auf Schlaganfall eingeliefert wird", erklärt Gründling weiter. Aber nicht nur das Personal wird besser geschult, auch die Erreger-Suche gelingt in Greifswald schneller. Grund dafür ist ein Labor-Roboter, der binnen Stunden erledigt, was sonst Tage dauert. „Nach ein bis anderthalb Stunden weiß man, wie der Keim heißt, und nach insgesamt sechs bis sieben Stunden, welches Antibiotikum wirkt. Angenommen, es ist abends 19 Uhr, dann ist das Ergebnis um Mitternacht da – und die Mikrobiologie fängt bei uns erst um 7 Uhr am nächsten Tag an zu arbeiten. Also haben wir schon sieben Stunden eher das Ergebnis und können den Patienten ganz gezielt behandeln", schildert Gründling das Vorgehen.
Der Erfolg gibt ihm recht: Laut des Mediziners bekommen 80 Prozent der Patienten in Greifswald innerhalb der ersten Stunde nach dem Auftreten der Sepsis-Symptome ein Antibiotikum, die Sterblichkeit ist seit Beginn des Projekts um 20 Prozent gesunken und gehört zu den niedrigsten in ganz Deutschland. Bundesweit haben sich auch andere Kliniken zu einem Qualitätsbündnis zusammengeschlossen. Laut Schätzungen der Sepsis-Stiftung ließen sich durch schnelle Diagnose und flächendeckende Behandlungs- und Hygienestandards 15.000 bis 20.000 Todesfälle vermeiden.