Thüringen-Schock und AKK-Rücktritt sind Symptome einer tiefer liegenden Krise
Das politische Erdbeben in Thüringen hat auch Berlin erschüttert. Der Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Chefin und potenzielle Kanzlerkandidatin der Union ist Symptom für eine aktuelle und eine strukturelle Krise der Parteien.
Die punktuelle Krise zeigt sich am unfassbaren Mangel an Instinkt und am politisch-moralischen Blackout der handelnden Akteure in Thüringen. Es begann mit dem Tabu-Bruch, dass am 5. Februar erstmals seit 1945 ein Politiker mit den Stimmen der in Teilen rechtsextremen AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Thomas Kemmerich, Vorsitzender der FDP und der FDP-Landtagsfraktion in Thüringen, machte sich zum nützlichen Idioten der Rechtspopulisten. Deren Thüringer Anführer, Björn Höcke, hatte den machiavellistisch-diabolischen Plan ersonnen, Kemmerich zum Chef einer „bürgerlichen" Koalition aus CDU und FDP zu küren – von Gnaden der AfD. Dahinter steckte kein Angebot für eine Kooperation, sondern die Verhöhnung der parlamentarischen Demokratie.
Höcke ist für Demokraten kein Partner zum Regieren – weder direkt noch indirekt. Er steht der parteiinternen Strömung des rechtsextremen „Flügels" vor, der ausländerfeindliche Positionen mit Nazi-Vokabeln wie der „Umvolkung" unterfüttert. Und er propagiert offen Antisemitismus, indem er das Holocaust-Denkmal in Berlin als „Mahnmal der Schande" schmäht. Vor wenigen Tagen hatte die Republik noch der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren gedacht. „Nie wieder", lautete die Mahnung. Es darf keine Relativierung der Nazi-Gräuel durch eine Kumpanei mit Höcke geben.
Diesen Kontext am 5. Februar nicht bedacht zu haben, diskreditiert Kemmerich. Er war entweder unglaublich naiv oder sträflich machtbesessen. Auch Christian Lindner an der Spitze der Bundes-FDP hatte Höckes Spiel zunächst nicht durchschaut. Am schnellsten erfasste der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder die Situation. Er distanzierte sich sofort von der Erfurter Scharade, zeigte klare Kante gegen die AfD und forderte Neuwahlen.
Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer zog kurz darauf nach und sprach sich ebenfalls für einen neuen Urnengang aus. Allein: Sie konnte sich gegenüber ihren Thüringer Parteifreunden nicht durchsetzen. Doch das Problem von AKK reicht weiter zurück. Sie litt unter einem schleichenden Autoritätsverlust, der bereits nach ihrer Wahl zur CDU-Chefin im Dezember 2018 eingesetzt hatte.
AKK moderierte, aber sie führte nicht. In wichtigen Momenten zauderte sie. Auf das provozierende Video des Youtubers Rezo mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU" im Mai 2019 fand sie keine Antwort. Sie hätte elegant in die Offensive gehen können. Ihre nachgeschobene Bemerkung von der Einschränkung der Meinungsfreiheit im Netz wirkte hingegen unsouverän und altbacken. Wo immer AKK auftrat, strahlte sie Überforderung aus.
Auch bei FDP-Chef Lindner ist der Erfurt-Moment nur Symptom einer tiefer liegenden Krise. Er versteht sich als moderner Liberaler, der auf der Welle des Zeitgeists surft. „Digital first, Bedenken second", prangte auf den neonfarbenen Wahlplakaten der FDP neben seinem schwarz-weißen Konterfei. Stylish will er rüberkommen, doch in Wahrheit reitet ihn ein narzisstischer Ego-Trip. Lindner formte die FDP nicht zu einem Team, das inhaltliche Profil blieb auf der Strecke. Beim letzten Dreikönigstreffen empfahl er seinen Parteifreunden, „vor die Werkstore" zu ziehen, um der SPD enttäuschte Arbeiter abspenstig zu machen. Es sollte wie ein genialer Coup aussehen, war aber eher ein Akt der Verzweiflung.
Auch unter AKK leidet die CDU unter programmatischer Beliebigkeit. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hatte die Partei sozialdemokratisiert. Höherer Mindestlohn, Rente mit 63, Abschaffung der Wehrpflicht: Zur SPD gab es kaum noch Trennschärfe. AKK konnte keine neuen Impulse geben.
Die Union hat ihren politischen Markenkern verloren. Der Kompass ist defekt. Wirtschaftswachstum, Investitionen in Zukunftsindustrien wie Künstliche Intelligenz und digitale Wirtschaft, kontrollierte Migration, wirksamer Grenzschutz, Haushalts-Stabilität: Das sind Inhalte, mit denen Österreichs konservativer Kanzler Sebastian Kurz Wahlen gewinnt. Würde die CDU das beherzigen, müsste sie viel weniger Angst vor der AfD haben.