Was macht ein Lied zum Chartstürmer? Nicht etwa Musikwissenschaftler, sondern vielmehr Mediziner, Mathematiker und Psychologen versuchten kürzlich dieses Rätsel zu lösen.
Der ein oder andere wird schon mal davon geträumt haben, mit einem eigenen Lied die internationalen Charts zu stürmen und als gefeierter Pop-Star Ruhm und viel Geld zu ernten. Aber was macht einen Song so erfolgreich? In den vergangenen Jahren haben sich immer wieder seriöse Wissenschaftler auf die Suche gemacht, um das Geheimnis zu enthüllen.
So verschieden die Ansätze auch waren, eine gänzlich zufriedenstellende Lösung für das sprichwörtliche Ei des Kolumbus haben sie dabei letztlich noch nicht gefunden. Zumal sich im Digitalisierungszeitalter in der Musikindustrie vieles gewandelt hat. Und dennoch gibt es noch immer viele Gemeinsamkeiten zwischen den Hits, die früher zielgenau bezüglich optimaler Spielbarkeit im Radio produziert wurden, und denen, die heute mit Blick auf die Playlisten der Streamingdienste wie Spotify, Apple Music oder Deezer ganz bewusst geschrieben werden.
Denn die einfache Grundregel, dass ein Song möglichst sofort ins Ohr gehen sollte, gilt noch immer. Heute umso mehr, damit der Song beim kurzen Reinhören nicht gleich weggeklickt, sondern länger gestreamt wird. Erst dann beginnt nämlich Kohle, an den jeweiligen Künstler zu fließen. Der US-Datenjournalist Dan Kopf hat für das in San Francisco ansässige Wirtschafts-Internetportal „Quartz" ermittelt, dass die Songs im Streaming-Zeitalter nicht nur direkter, sondern insgesamt auch kürzer werden müssen. Ellenlange Intros, wie sie beispielsweise die Eagles bei ihrem Hit „Hotel California" 1976 eingesetzt hatten, dürften daher heute kaum mehr erfolgversprechend sein. Sie setzen eine längere Beschäftigung mit einem Titel voraus, was von den meisten Nutzern des inzwischen marktbeherrschenden Autostreamings nicht mehr erwartet werden kann.
Wie ein Song zum Mega-Hit werden kann, lässt sich aus all dem aber noch nicht ableiten. Das Geheimnis haben in jüngster Zeit beispielsweise Forscher um Stefan Thurner, Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme von der Medizinischen Universität Wien, 2015 zu ergründen versucht und die Ergebnisse ihrer Studien im Fachjournal „Plos One" veröffentlicht. Sie wollten herausfinden, welche und wie viele verschiedene Instrumente auf Alben populärer Musikstile zwischen 1955 und 2011 zum Einsatz gekommen waren. Ihr Resümee lautete: Wer einen Chartbreaker landen wollte, sollte seinen Song möglichst simpel und möglichst wenig komplex anlegen. Mainstream ließ sich am besten verkaufen.
Mainstream lässt sich am besten verkaufen
2018 machten sich Mathematiker rund um Prof. Natalia Komarowa von der University of California in der US-Westküstenstadt Irvine daran, ebenfalls das Erfolgsrezept für Hits zu ergründen. Dazu analysierte das Team mehr als 500.000 Songs, die zwischen 1985 und 2015 in Großbritannien herausgekommen waren. Titel wurden genau dann als erfolgreich eingestuft, wenn sie es in die Top 100 der Charts geschafft hatten, was im Schnitt nur vier Prozent der Neuveröffentlichungen eines Jahres gelang. Die Wissenschaftler werteten nur die Klangmerkmale aus. Dabei kamen sie zu folgendem, im Fachmagazin „Royal Society Open Science" publiziertem Ergebnis: Erfolgreiche Songs in den Charts zeichnen sich durch Heiterkeit, Fröhlichkeit und Party-Tauglichkeit/Tanzbarkeit aus, wobei weibliche Interpreten klar den Ton angeben.
Es handele sich um einen Siegeszug der elektronischen Musik, dem allerdings eine wachsende Zahl von Songs mit traurigen Grundtenor und vergleichsweise geringeren Chart-Erfolgschancen diametral gegenüberstehe. „Ein erfolgreicher Song ist in der Regel fröhlicher und tanzbarer als der Durchschnitt ", sagt Natalia Komarova. Allerdings wiesen die Forscher deutlich darauf hin, dass aus ihren Ergebnissen keine einfache Erfolgsformel oder sichere Voraussage für einen Hit erstellt werden könne. Lediglich der Superstar-Bonus eines Künstlers könne die Hit-Erwartungen extrem in die Höhe schnellen lassen. Was die musikalischen Genres betrifft, so haben es laut Komarowa und Co Klassische Musik und Jazz extrem schwer, zu Hits zu werden. Pop und Dance haben diesbezüglich klar die Nase vorn, während Rock-Songs seit den frühen 2000er-Jahren kontinuierlich von der Erfolgsspur abgekommen seien.
Mit einem gänzlich anderen Ansatz machten sich Psychologen rund um Vincent Cheung vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften an die Aufgabe, das Rätsel um erfolgreiche Songs zu enthüllen. Vorab nahmen sie die Künstliche Intelligenz in Gestalt eines speziellen Computerprogramms zu Hilfe, um dieses mit 80.000 Akkordfolgen aus 745 in den US-Bildboard-Charts unter den Top-100 zwischen 1958 und 1991 gelisteten Titeln zu füttern. Das Programm sollte berechnen, wie wahrscheinlich bestimmte Akkordfolgen sind, und sollte die Erwartungshaltungen des Hörers auf diese Akkordfolgen im Hinblick auf zwei Aspekte simulieren: Wie erwartet oder überraschend ist der Akkord im musikalischen Kontext? Wie stark lässt der Akkord erkennen, wie es im Lied weitergeht?
Balance in Akkordfolgen
Anschließend spielten sie ausgewählte Akkordfolgen 39 Probanden vor, wobei Melodie und Rhythmus der Hitsongs komplett eliminiert worden waren, sodass die Lieder nicht mehr erkannt werden konnten. Die Probanden sollten nur bewerten, wie angenehm oder weniger angenehm sie die jeweiligen Akkorde empfunden hatten. Anschließend verglichen sie die individuellen Bewertungsergebnisse mit den zuvor durch den Computer berechneten Werten für jede Akkordfolge. Daraus konnten sie folgendes, in der Zeitschrift „Current Biology" im November publiziertes Ergebnis ableiten: Besonders gut schnitten Melodien ab, bei denen der Hörer zu wissen vermeint, was als Nächstes kommt und sich dennoch von einem unerwarteten Akkord gerne überraschen lässt. Wohingegen bei einem offenen, ungewissen Fortgang der Melodie die Fortsetzung mit gewohnten Klängen bevorzugt wird. „Es ist faszinierend, dass bei Menschen Freude an einem Musikstück entsteht, nur durch die Art und Weise, wie die Akkorde in der Musik über die Zeitdauer hinweg angeordnet werden", sagt Cheung. Wichtig für den perfekten Hörgenuss sei daher die perfekte Balance zwischen erwartbaren und überraschenden Akkordfolgen.
Um herauszufinden, welche Gehirnareale beim Hören der Akkordfolgen aktiv wurden, spielten die Forscher die Versatzstücke 40 anderen, in einem Magnetresonanztomographen platzierten Probanden nochmals vor. Der Gehirnscan zeigte erwartungsgemäß die Aktivierung des auditorischen Cortex, in dem die Töne verarbeitet werden, des mit dem Gedächtnis assoziierten Hippocampus und der vor allem mit Emotionen verbundenen Amygdala. Ziemlich überraschend war die partielle Aktivierung des Nucleus accumbens, der üblicherweise nur mit der Belohnungserwartung und dem Ausstreuen von Glücksgefühlen in Verbindung gebracht wird. Der Nucleus accumbens reagierte nicht einfach nur per se auf das Gehörte, sondern wurde nur dann aktiv, wenn der Proband besonders gespannt darauf war, wie es mit der Melodie wohl weitergehen würde. Ob die Entdeckungen der Leipziger Wissenschaftler und ihrer internationalen Kollegen künftig Einflüsse auf die Arbeit von Komponisten oder Songschreibern haben werden, bleibt abzuwarten. Aber testweise könnten zumindest musikproduzierende Algorithmen damit bestens gefüttert werden.