Fridays for Future zeigt: Jugend interessiert sich für Politik. Dass es zwar eine Protesthaltung, aber nicht den Drang Verantwortung zu übernehmen gibt, habe noch immer mit Partei- und Politikerverdrossenheit zu tun, sagt Prof. Dr. Mathias Albert, Mitautor der Shell-Jugendstudie.
Herr Prof. Albert, als Autor der Shell-Studie untersuchen Sie unter anderem den Grad des politischen Interesses der Jugend. Wie ist ihr Befund? Ist die Jugend heute politisch interessierter als in den vergangenen fünf bis zehn Jahren?
Der Anstieg des politischen Interesses Jugendlicher über die letzten Jahre hinweg hat sich stabilisiert. Es gibt keinen weiteren Anstieg seit 2015. Jugendliche, die sich politisch interessiert zeigen, setzen sich aber heute stärker mit politischen Inhalten auseinander. Sie artikulieren ihre Interessen auch mehr. Fridays for Future ist ein Beispiel dafür. Das Politisch-interessiert-sein wird auch zunehmend als „in“ angesehen – es ist keine kleine Minderheit, die unter anderen Jugendlichen womöglich als Exoten wahrgenommen werden, sondern es ist wieder akzeptiert und wie zuletzt in den 80er-Jahren etwas Alltägliches. Das verleitet zu der Vermutung, dass dieses Engagement keine Eintagsfliege bleiben wird, sondern auch das Markenzeichen der gegenwärtigen jungen Generation ist.
Interesse an Politik ist das eine, mitgestalten das andere. Wie sieht es beim konkreten politischen Engagement aus?
Das politische Engagement beschränkt sich auf Protestartikulation. Wir sehen nicht, und das ist das scheinbar Paradoxe daran, dass sich etwas an der Politikverdrossenheit ändert. Das erklärt sich dadurch, dass diese Verdrossenheit schon immer eine Partei- und Politikerverdrossenheit war. Man zweifelt daran, dass Parteien oder Politiker Lösungskompetenzen haben und dass sie sich für die Jugendlichen einsetzen. Demzufolge ändert sich auch nichts an der Bereitschaft, sich in den traditionellen Formen des Politikbetriebs einzubringen, sprich zum Beispiel politische Ämter zu übernehmen, und an der Zahl derjenigen, die das konkret tun. Die interessanteste Frage der kommenden Jahre wird sein, ob und in welcher Form das geschehen wird. Denn eines kann man sicher sagen: Ein Protest ohne feste Organisationsform wird irgendwann verschwinden.
Das heißt, es bleibt erstmal nur bei der bequemen Forderung nach mehr Verantwortung für die Zukunft an die ältere Generation?
Das stimmt, ich muss es aber auch relativieren. Der Mangel an Bereitschaft, sich parteipolitisch und in Ämtern zu engagieren, ist nicht jugendspezifisch, sondern zieht sich quer durch die Gesellschaft, durch alle Altersgruppen. Ich will aber mal sagen, angesichts dieser mangelnden Bereitschaft ist die Protestbewegung doch mal ein positives Signal: dass sich junge Menschen in dieser Form öffentlich äußern und dies nicht in stummer, ablehnender Haltung tun. Sie tun dies in einer Gesellschaft, die das politische Engagement weitgehend verlernt hat.
Was meinen Sie mit „verlernt“?
Es ist kein Alltagsbestandteil mehr, sich einer Partei zugehörig zu fühlen. Das ist auch der Grund, warum die Volksparteien heute kaum noch eine Daseinsberechtigung finden. Es war mal ein Teil der Selbstwahrnehmung und der Selbstidentifikation in Deutschland, sich im Parteienspektrum verorten zu können. Aber das gehört der Vergangenheit an. Damit leidet natürlich der Politikbetrieb einer Parteiendemokratie, der in Deutschland darauf angewiesen ist, dass sich eine erkleckliche Anzahl von Menschen für ihn interessiert und engagiert.
Parteien dürfen also auch künftig keinen größeren Zulauf von Jugendlichen erwarten, die ihre Straßenproteste zugunsten von konkreter Gremienarbeit aufgeben?
Nein, den Parteien gelingt es derzeit nicht, die Jugendlichen von sich, ihrem Programm und ihrer Problemlösungskompetenz zu überzeugen. Man kann es natürlich nicht pauschal für alle sagen, hier kommt es auf die sozialen Milieus an. Aber wenn man sich die Entwicklungen der letzten Wochen in der Bundespolitik oder der Landespolitik in Thüringen ansieht, sieht man auch wenig, was das Vertrauen in die Parteien in Deutschland stärken könnte.
Mit welcher Strategie müssen Parteien denn arbeiten, um die Jugendlichen von sich zu überzeugen?
Wir müssen festhalten, dass es kein Patentrezept gibt. Denn danach suchen die Parteien schon lange. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Artikulation von Interessen und die Bündelung dieser Interessen nicht mehr in dem Maße von Parteien abhängt, wie das der Grundgedanke einer Parteiendemokratie wie der unseren ist. Das hat damit zu tun, dass Interessen heute viel einfacher über das Internet artikuliert werden können. Den organisatorischen Apparat der Partei braucht man dafür nicht mehr. Die Frage wird also sein: Auf welche Weise fühlen sich Jugendliche ernst genommen? Diese Frage kann man auf zwei Arten beantworten: Erstens, indem man versucht, die Jugendlichen bei sachbezogenen Themen und Projekten miteinzubeziehen, aber dies hat meist nur punktuellen Erfolg. Damit zeigen Parteien jedoch, dass sie es ernst meinen und Jugendliche nicht nur als Wähler willkommen heißen, sondern dass sie aktiv etwas mitgestalten können. Zweitens, ein Verjüngungsprogramm. In Finnland gibt es seit Kurzem eine neue Regierung, die heraussticht in Europa: In der Fünf-Parteien-Koalition werden alle Parteien von Frauen geführt, Regierungschefin Marin ist 34 Jahre alt, drei der fünf Parteichefinnen sind unter 40 Jahre alt. Sanna Marin hat direkt nach Amtsübernahme im Dezember angekündigt, nur vier Tage die Woche als Ministerpräsidentin zu arbeiten. Das setzt natürlich ein starkes Signal (siehe dazu auch Seite 42, Anm. d. Red.). Davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. Sehen Sie sich die beginnende Diskussion in der CDU an, betrachten Sie den Auswahlprozess der neuen SPD-Führung. Parteien müssten sich im Kern ändern und konsequent verjüngen, um Jugendliche besser ansprechen zu können.
Die Parteien in Deutschland versuchen das zwar auch in ihrer Kommunikationsstrategie im Internet mehr oder weniger erfolgreich. Aber welche Rolle spielen politische Informationen über Social Media bei den Jugendlichen?
Jugendliche trauen zwar den etablierten, klassischen Printmedien oder der Tagesschau im Fernsehen, informieren sich aber über Social Media. Sprich, gelesen werden „Süddeutsche“, „FAZ“ oder die „Zeit“ nicht, geschaut wird die Tagesschau nicht, aber ihr Ruf ist bei den Jugendlichen unangetastet. Aber wir sehen, diese Generation ist in der Lage, dennoch gut zwischen ernsthaftem Journalismus und potenziellen Fake News zu differenzieren.
Wer interessiert sich denn heute eher für Politik? Schüler oder Studenten?
Im Falle von Fridays for Future haben wir das erste Mal das Phänomen, dass dies eine stark schülergetriebene politische Protestbewegung ist. Erst spät und in geringerem Maße kamen die Studierenden mit dazu. Das politische Interesse von Studierenden kann man aber nicht pauschal als geringer bezeichnen, da dies auch durch starke lokale Traditionen variieren kann: Es gibt Universitäten, die politischer sind als andere. Und es hat sehr viel mit dem Bologna-Prozess zu tun – die Pflichtveranstaltungen und der Abschluss sind hier wichtiger als politische Betätigung, und das schließt die gesamte Hochschulpolitik und die Selbstverwaltung der Hochschulen mit ein.
Woher diese Verschiebung? Im Falle der 68er, der Proteste gegen Nachrüstung in Deutschland, gegen Atomkraft waren die Studenten noch stärker in die Protestbewegung integriert.
Ja, aber heute haben wir zum ersten Mal seit langer Zeit das Phänomen, dass sich die Protestbewegung als Generationenbewegung versteht. Die Proteste gegen den Nato-Doppelbeschluss, die Anti-Atomkraftbewegung waren Bewegungen quer durch die Bevölkerung. Heute geht es, strukturell ähnlich wie die 68er, aber ansonsten kaum zu vergleichen, um Ansprüche, die an die ältere Generation gerichtet sind und ihr Verantwortung zuschreiben. Das erklärt es nicht, warum es primär Schüler sind. Aber man kann nur hoffen, dass damit eine Generation heranwächst, die willens und in der Lage ist, mehr politische Verantwortung zu übernehmen. Diejenigen, die gerade studieren oder in den Job kommen, haben das nicht in dem Maße gemacht.
Ist das also nun ein neuer Generationenkonflikt, der sich abzeichnet, oder nicht?
Das mag jetzt abstrakt klingen und das ist es sicher auch: Es gibt Theorien, die besagen, dass die Interessen von Jugendlichen in Zyklen bestehen. Sprich, ob sie derzeit eher an Selbstverwirklichung und materiellem oder wirtschaftlichem Erfolg oder an anderen Dingen – wie Politik – Interesse haben. Das ist kein Automatismus, aber ich würde es so formulieren: Wenn sich nicht jetzt, nach fast einem Jahrzehnt des mangelnden politischen Protests und Interesses bei Jugendlichen, etwas Derartiges entwickeln würde, hätten wir als Gesellschaft ein viel ernsteres Problem. Die Auseinandersetzung um den Klimawandel hat zwar generationenspezifische Aspekte. Aber dies ist kein Generationenkonflikt. Wie mit dem Klima umgegangen wird, diese Frage wird in allen Altersgruppen unterschiedlich beantwortet.
Wie sieht denn die Zukunft von jugendlichen Protestbewegungen wie Fridays for Future aus?
Es wird sich zeigen, ob sich die Proteste in kleinere Grüppchen und Protestförmchen aufdröseln oder ob es in den institutionellen Politikbetrieb herüberschwappt. Geschieht zweiteres, kommt es darauf an, ob die traditionellen Parteien den Jugendlichen hier ein gutes Politikangebot machen können – aber danach sieht es im Moment nicht aus. Die letzte Möglichkeit ist, dass wir eine neue Parteigründung analog zu den Grünen in den 80er-Jahren erleben.