Parteien sind out, politische Themen sind in: Politiklehrer André Woll spricht in diesem Zusammenhang über Partizipationsformen, politisches Interesse und polarisierende Ideologien.
Herr Woll, oft wird gesagt, die „Jugend von heute“ sei nicht mehr politisch. Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Wenn ich von meiner Schulzeit ausgehe: In unserem Politik-Leistungskurs waren vielleicht zwei Leute in einer Partei engagiert. Die Zahl ist bis heute konstant. Mehr Leute engagieren sich in Vereinen – die wirklich harte Politik macht kaum jemand. Auch bei solchen Sachen wie Fridays for Future ist der harte Kern überschaubar. Die Zahl der Mitläufer ist höher. Tagespolitisch haben die meisten kaum Ahnung. Insgesamt ist da also recht wenig Engagement und ein überschaubares Interesse. Was aber immer öfter in der Diskussion mitschwingt, ist dieses Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem, was passiert. Die wenigsten wissen dann, wie sie das kompensieren können. Was sie persönlich tun können.
Wie kommt es zu diesem „Gefühl der Ohnmacht“?
Ich denke, da kommen verschiedene Faktoren zusammen. Einmal sind das teilweise adaptierte Meinungen von Eltern, Bekannten oder Freunden. Zum anderen sind die Parteien an sich sehr homogen und auch nicht unbedingt die „Spaß und Party“-Fraktionen. Ortsverbände sind oft in sich geschlossene Gruppen, in die man nicht einfach so reinkommt – da sind die Strukturen relativ fest. Einer meiner Schüler, der sich beispielsweise in einer der Volksparteien sehr engagiert hatte, musste nach eineinhalb Jahren auch feststellen, dass er ganz schön dicke Bretter bohren muss, um etwas zu bewegen. Auch die kleinen Splitterparteien – vielleicht sprechen gerade diese einen jungen Menschen mehr an, als die großen Parteien, sie bieten aber keine echte Option. Diese kommen durch die Fünfprozenthürde erst gar nicht in ein politisches Gremium. Das ist auch Teil dieses Ohnmachtsgefühls. Jetzt ist diese Hürde ja auch nicht zum Spaß da, aber die Frage ist, ob Sachen, die vor 70 Jahren sinnvoll waren, das auch heute noch sind. Die Frage ist eben: Ab wann ist eine Meinung nicht mehr repräsentiert, beziehungsweise ab wann muss sie es sein?
Aber Jugendorganisationen sind doch etwas lockerer. Wieso also nicht dort engagieren?
In den Jugendorganisationen kommen oft Klischees zum Tragen. Übertrieben gesagt wird von einem, der sich in der Grünen Jugend engagieren will, erwartet, dass er mindestens einmal in der Woche ein Tier rettet oder einen Baum schützt. Den Liberalen sagt man nach, dass sie erst für ein entsprechendes Budget überhaupt morgens aufstehen. Das sind natürlich alles Klischees und Vorurteile, aber teilweise wird das durchaus durch verschiedene Mitglieder transportiert und verkörpert. Damit können viele nichts anfangen.
Sind Vereine oder NGOs also attraktiver?
Ja. NGOs sind weitaus unkomplizierter betreffend Einstieg und weitaus lockerer organisiert. Allerdings sind sie aber auch seltener zielführend, wenn man politisch wirklich etwas bewegen mag. Sie machen zwar viele publikumswirksame Aktionen – aber was kommt im Endeffekt dabei rum? Das ist die Frage. Die Motivation dabei ist aber auch nicht unbedingt, sich politisch zu engagieren. Da geht es nicht um die typische politische Karriere, sondern um konkrete Hilfe. Das lässt NGOs für viele interessanter erscheinen als beispielsweise die Parteiarbeit. NGOs verbindet man mit konkreten Themen und Maßnahmen.
Was sind denn „junge“ Themen?
Interessant ist, dass das wirklich von Schuljahr zu Schuljahr wechselt. Ich mache jetzt seit zehn Jahren an diesem Standort den Unterricht und beobachte das immer wieder. Ich kann nicht sagen, dass in diesen zehn Jahren irgendein Thema konstant on top gewesen wäre. Nehmen wir meinen Politikkurs aus dem letzten Jahr, die haben gesagt: „Unsere Generation ist total auf Umwelt!“ Dieses Jahr habe ich welche, die sagen mir, dass ihnen diese ganze „Fridays for Future“-Welle ziemlich auf die Nerven geht. Die wollen nichts von Greta wissen, regen sich eher darüber auf, dass ihr Lifestyle in Gefahr ist. Die wollen auch Sankt Martin feiern und kein Lichterfest oder sowas. Also konkrete Alltagsdinge. Weniger Thema sind solche Dinge wie: „Europäische Union – ja oder nein?“ Die junge Generation hat nie die Zeit ohne die heutige EU erlebt. Sie nehmen die Benefits, die es bringt, wissen aber oft nicht, wie hart diese errungen wurden.
Stichwort Fridays for Future: Wird diese Philosophie wirklich gelebt?
Da gibt es ein schönes Beispiel aus unserer Theater-AG. Dort brauchen wir Becher für das nächste Stück. Die Schüler wollten Pappbecher, die zwar ein wenig teurer, aber auch weniger umweltschädlich sind als Plastikbecher. Die gleichen Schüler haben sich aber auch entschieden, Knicklichter kaufen zu wollen, die mit Sicherheit weniger nachhaltig sind als ein Plastikbecher. Es versucht schon jeder im Alltag etwas zu tun. Sei es Mülltrennung, schauen, wie man Dinge wiederverwenden kann, ohne sie wegwerfen zu müssen. Aber diese Totalität, wie sie Fridays for Future teilweise verlangt, kommt überhaupt nicht an. Da gehen unsere Schüler eher auf die Barrikaden nach dem Motto: „Das ist ja alles gut und schön, aber ich lasse mir jetzt nicht vorschreiben, was ich esse und wie ich lebe.“ Gerade bei sozial schwächeren Familien geht es da ums Überleben. Nicht jeder kann sich grüne Politik leisten. Das sind die Punkte, wo diese ideologische – teilweise ja auch begründete – Umweltpolitik auf den Alltag trifft. Und dort gibt es eine riesige Diskrepanz. Uns fehlt ein Mittelweg. Es gibt nur noch schwarz und weiß.
Driftet die Gesellschaft auseinander?
Ja. Es gibt nur noch das eine oder das andere. Entweder du bist für individuelle Vielfalt oder du bist konservativ, was sich ja eigentlich nicht ausschließt. Man wird sofort in Schubladen gesteckt. Viele zeichnen nur noch schwarz und weiß – uns fehlt aber auch das Grau. Links geht immer – auch gewaltbereit –, konservativ ist rechts. Rechts ist automatisch rechtsextremistisch. Wir müssen wieder mehr Toleranz zeigen, auch für politisch Andersdenkende. Demokratie heißt nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“. Das verlernen wir gerade mit den Schubladen-Debatten. Wir hatten hier im letzten Bundes- und Landtagswahlkampf fast Weimarer Verhältnisse erlebt. Damit meine ich, dass es sehr viele Übergriffe auf Wahlkampfstände gab – nur weil man anderer Meinung war. Das wurde teilweise nicht mit Worten gelöst, sondern mit Gewalt gegen Personen und Sachen. Das hat nichts mit demokratischem Verhalten zu tun. Es sollte uns zu denken geben, dass Gewalt, Hass und Diffamierung unter dem Deckmantel des guten Zwecks grassiert und salonfähig wird. Jugendliche lernen ein negatives Beispiel für Demokratie, verlernen, dass man miteinander reden muss. Man setzt sich momentan mit dem Gegner nicht mehr auseinander. Es geht gar nicht mehr um Argumente oder Konsens. Ein Beispiel: Trump hält seine Rede und die Oppositionsführerin Pelosi zerreißt diese. Das ist doch nicht demokratisch. Das ist Kindergarten wie Blumensträuße hinwerfen. Was wäre denn gewesen, wenn es andersrum gewesen wäre? Und das sollen dann Vorbilder für die Jugend sein? Das ist das genaue Gegenteil von demokratischer Redekultur. An dieser Totalität, die nur die beiden Ränder stärkt, kann unsere Demokratie auf Dauer zerbrechen.
Wie informieren sich Jugendliche über politische Themen?
Die Klassiker der modernen Kommunikation sind ja Instagram, Facebook und Co. Über diese sozialen Medien kommuniziert man und da gehen Sachen dann viral. Man hat die Möglichkeit, viel mehr Informationen zu bekommen. Aufgrund dieser Datenflut ist aber auch die Eigenverantwortung, diese zu filtern, größer geworden. Das können viele nicht leisten. Je nachdem wem man folgt, dessen Meinung bekommt man. Sonst geht der Nachrichtenkonsum eher gegen null. Maximal wenn die Eltern abends mal Nachrichten gucken. Von alleine würden das recht wenige tun. Zeitungen – egal ob regional oder überregional – liest kaum jemand. Ich versuche immer dazu zu animieren, wenigstens eine Wochenzeitung zu lesen. Man merkt aber auch, dass viele die Texte nicht verstehen. Die sind meist zu kompliziert und mit zu vielen Fachwörtern geschrieben. Das war aber auch schon vor 30 Jahren ein Problem. Was schon eher funktioniert, ist, wenn ich sage, man soll sich doch wenigstens eine Nachrichten-App installieren. Da bekommt man eine Push-Benachrichtigung, und das kommt dann auch an. Man kann aber auch nicht extrinsisch für eine Sache motivieren, die intrinsisch erfolgen muss.