Haben die Männer in den skandinavischen Ländern eine neue Stufe der Evolution erreicht? Fast scheint es so, denn Gleichberechtigung ist etwa in Finnland kein Thema mehr. Dass Frauen politische Ämter bekleiden, ist nicht eine Frage der Konkurrenz, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Bei Untersuchungen zur Geschlechtergerechtigkeit landet zum Beispiel Finnland meist auf einem Spitzenplatz. Wann immer das Weltwirtschaftsforum seinen Global Gender Gap Report herausgibt – also das Ranking, das die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau misst, wird Finnland ganz vorne gelistet. Ende 2019 hat der nordische Staat wieder für Schlagzeilen gesorgt, denn seine neue Regierung wird von einer 34-jährigen Frau geführt. Nach dem Rücktritt des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Antti Rinne, der wegen eines Streits über die Postreform die Unterstützung einer der Parteien aus seiner Fünf-Parteien-Koalition verlor, hat seine Parteikollegin Sanna Marin das Amt übernommen.
Mit 34 Jahren ist sie die jüngste Regierungschefin, die Finnland je hatte. Bemerkenswert: Auch die vier weiteren Koalitionsparteien werden von Frauen geführt. Und Marin ist nicht die einzige und erste Frau in Skandinavien, dem Norden Europas, die die Geschicke ihres Landes lenkt. Neben ihr regieren aktuell noch in Dänemark, Norwegen und Island Frauen. Und auch in den Jahren und Jahrzehnten zuvor saßen Frauen am Kopf des Kabinettstisches. Nur in Schweden regiert derzeit mit Stefan Löfven ein Mann.
„Ich habe nie über mein Alter oder mein Geschlecht nachgedacht; ich denke an die Gründe, die mich in die Politik gebracht haben“, sagte Marin auf einer Pressekonferenz nach ihrer Ernennung. Und ganz Realpolitikerin gab sie auf die Frage, ob nach ihrem Amtsantritt politische Veränderungen zu erwarten seien, zu Protokoll: „Wir haben ein gemeinsames Regierungsprogramm, dem wir uns verpflichtet haben.“ Die beiden unspektakulären Aussagen der jungen Ministerpräsidentin sagen viel über das Land aus. Frauen in führenden Positionen sind im politischen Leben schon Normalität und kein Grund für besondere Aufregung. Immerhin ist Marin schon die dritte Frau im Amt der Ministerpräsidentin.
In Finnland genießt man zwar die internationale Aufmerksamkeit, die der Regierungswechsel dem Land verschafft, als einschneidenden Richtungswechsel empfindet man Marins Wahl aber nicht. Deswegen gab es sogar von konservativer Seite Beifall. Alexander Stubb, heute Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank, und von 2014 bis 2016 für die Nationale Sammlungspartei selbst in Marins Position, twitterte, die Tatsache, dass alle fünf Parteien der Koalition von Frauen geführt werden – davon vier unter 40 Jahren –, sei ein Grund zum Jubeln, denn das zeige, dass Finnland ein modernes und progressives Land sei.
Wahlrecht schon 1906
Neben Marin gehören elf Frauen und sieben Männer dem Kabinett an. Das entspricht einem Anteil von fast 64 Prozent. Damit liegt Finnland auf Platz zwei weltweit. Und noch eine Zahl beeindruckt: Im finnischen Parlament, dem Reichstag, sind 47 Prozent der Abgeordneten weiblich, das bringt Finnland weltweit den achten Rang ein – Deutschland liegt mit 31 Prozent auf dem 44. Platz von 188 Ländern.
Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat in Finnland eine lange Geschichte. Bereits 1885 wurde das patriarchale Ehegüterrecht aufhoben. Konkret bedeutet das, dass eine Frau auch in der Ehe das Recht auf ein eigenes Vermögen hat, und der Mann nicht mehr allein über die Familienangelegenheiten bestimmen kann. Das scheint selbstverständlich? In Deutschland erhielten die Frauen dasselbe Recht erst 1958.
Als erstes Land in Europa gewährte das damals zu Russland gehörende „autonome Großfürstentum Finnland“ 1906 Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Allerdings mussten die Frauen das Wahlrecht auch nicht gegen den Widerstand der Männer erkämpfen. Vielmehr rangen es Finninnen und Finnen gemeinsam dem Zaren ab. Schon 1907 konnten sich 19 Frauen einen Sitz im finnischen Reichstag sichern – damit waren zehn Prozent der Parlamentarier weiblich.
1990 wurde die Finnin Elisabeth Rehn erste Verteidigungsministerin in einem europäischen Land. 1995 beschloss das finnische Parlament eine Frauen- und Männerquote von 40 Prozent in staatlichen Gremien, und im Jahr 2000 wählten Finnen und Finninnen Tarja Halonen zur Präsidentin – und damit in die damals mächtigste politische Position des Landes. Da scheint es nur logisch, dass Finnland im internationalen Gender-Gap-Ranking regelmäßig auf einem Spitzenplatz rangiert. In seinem Bericht für 2020 stufte das Weltwirtschaftsforum das Land hinter den nordischen Nachbarn Island und Norwegen auf Position drei ein.
Vor allem in der Familien- und Bildungspolitik legt man in Finnland den Grundstein für die Geschlechtergerechtigkeit. In vielen Regionen Deutschlands kommt es immer noch einem Lottogewinn gleich, wenn man für sein Kind einen Krippen- oder Kindergartenplatz bekommt. Und zwar nicht irgendeinen, sondern an dem Ort und zu dem Zeitpunkt, zu dem man ihm benötigt. Wartelisten für einen Kindergartenplatz kennt man in Finnland nicht. Ist absehbar, dass eine Einrichtung bald überfüllt sein wird, eröffnet man in der Nähe eine weitere. Selbst wenn eine Frau nachts oder am Wochenende arbeitet, muss sie sich um die Betreuung ihrer Kinder keine Sorgen machen. Allein in Helsinki gibt es sechs staatliche Rund-um-die-Uhr-Kitas, in denen Kinder übernachten und auch am Wochenende betreut werden können.
Vom finnischen Modell profitiert im Übrigen auch die gegenwärtige Ministerpräsidentin – Marin ist Mutter einer zweijährigen Tochter und nimmt ebenfalls das staatliche Betreuungssystem in Anspruch. „Ich bin in einem Wohlfahrtsstaat groß geworden und bin dankbar dafür, wie die Gesellschaft mich in schwierigen Zeiten meines Lebens unterstützt hat“, sagte die neue Ministerpräsidentin am Tag ihrer Wahl.
Marins Vater war Alkoholiker. Nachdem er die Familie verlassen hatte, zog die Mutter das Kind zunächst alleine auf und ging dann eine Beziehung mit einer Frau ein, mit der zusammen sie sich um die Erziehung der kleinen Sanna kümmerte. Später besuchte Sanna Marin dann als erstes Kind aus ihrer Familie eine Universität. Es spricht für das Land, wenn einer Frau mit solch schwierigem sozialem Hintergrund eine Karriere bis in die höchsten Staatsämter offensteht.
Kinderbetreuung rund um die Uhr
Auch auf dem Arbeitsmarkt sind Frauen in Finnland gleichberechtigt – zumindest scheint das so auf den ersten Blick. Ihre Erwerbsquote beträgt 70 Prozent, die von Männern nur 67 Prozent. Von den erwerbstätigen Frauen haben wiederum 47 Prozent einen Hochschulabschluss, die Männer kommen hier nur auf vergleichsweise magere 35 Prozent. Schaut man genauer hin, stellt man aber fest, dass diese optimistisch stimmenden Zahlen Finnland noch lange nicht zu einem „Frauenparadies“ machen. Je weiter es nach oben geht, je einflussreicher und einkommensstärker die Position, desto weniger Frauen sind dort vertreten. Der Frauenanteil in leitenden Stellungen und in Aufsichtsräten ist mit 35 beziehungsweise 32 Prozent schon wesentlich weniger beeindruckend. Dass diese Werte immer noch ausreichen, um international in der Spitzengruppe zu liegen, macht die Sache nicht besser. Da es in der Wirtschaft im Gegensatz zur Politik keine Quote gibt, bestimmen auch in finnischen Firmen vielerorts immer noch Männerseilschaften über die Karrierechancen.
In der Politik haben lediglich die Männer der nationalistischen Finnenpartei – zweitstärkste Kraft hinter den Sozialdemokaten – noch Probleme mit der Geschlechtergerechtigkeit. So bejammerte Fraktionschef Ville Tavio die neue Regierung als Höhepunkt einer „modernen feministischen, männerfeindlichen Bewegung“.
Dagegen haben Frauen in der Wirtschaft mit noch mehr Gegenwind zu kämpfen. Dort drückt man sich im Vergleich zu den Rechten zwar feiner aus, doch wenn es ums Geld geht, bleiben auch in Finnland die Männer am liebsten unter sich. Regierungschefin Sanna Marin und ihre Mitstreiterinnen haben also in Richtung „Frauenparadies“ noch einiges vor sich.