Lenzen ist eine der ältesten Städte Brandenburgs. Über Kopfsteinpflaster zwischen liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern und einer Burg kann man auf den Spuren einer wechselvollen Historie wandeln. Und dann in einer der schönsten Flusslandschaften Europas die Seele baumeln lassen.
Am Anfang war die Burg. Bevor jedoch in ihrem Schatten die germanische Siedlung Lenzen zur Stadt erhoben werden konnte, mussten erst einmal slawische Stämme von dieser Befestigungsanlage „Lunkini“ vertrieben werden. Denn der Ort lag an einem wichtigen Übergang der Elbe und damit inmitten des umstrittenen Grenzgebietes zwischen karolingischem Reich und slawischem Osten.
Heute ist in Lenzen von dieser Geschichte auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Beschaulich liegt der kleine Ort zwischen Wiesen und Feldern, umrahmt von Flüsschen und Seen, die mächtige Elbe im Süden, dichte Wälder im Norden. Im Umkreis der alles überragenden Kirche schmiegen sich hübsche Fachwerkhäuser in die Landschaft, wer hier unterwegs ist, benutzt sein Rad.
Vor 1.100 Jahren aber lag Streit in der Luft, die ständigen Scharmützel mit den Slawen konnten auf Dauer nicht gut gehen. König Heinrich I. machte dann reinen Tisch, und seine Truppen gingen dabei nicht gerade zimperlich zur Sache. Die Schlacht um die Burg geriet zu einem fürchterlichen Blutbad. Wer auf den feuchten Wiesen nicht mit dem Schwert niedergemacht wurde, versank auf der Flucht im Moor oder wurde als Gefangener am siebten Tag des Gemetzels geköpft. Chronisten sprechen von 20.000 getöteten Slawen. In diesem Jahr, 929 n. Chr. wird Lenzen also das erste Mal urkundlich erwähnt. Es hätte dafür schönere Anlässe geben können. Noch knapp 300 Jahre sollte es dauern, bis die neuen Herren aufflackernde Aufstände niedergeschlagen hatten und der Gegend Frieden und Glauben nach germanischer Art diktierten konnten.
Postkutschen nach Hamburg und Berlin machten hier Halt
Lenzen gehört zu den ältesten Städten Brandenburgs. Wer heute durch die Altstadt schlendert, wird zur Burg gehen müssen, um Spuren aus den Anfängen der Stadtgeschichte zu finden. Kirche, Rathaus, Reste der Stadttore stammen aus späterer Zeit. Ob mit der blutigen Gründungsgeschichte ein Fluch verbunden ist? Ein Schatten von Zerstörung und Verfall, der bis in die Gegenwart reicht?
Immer wieder fiel das oval angelegte Städtchen mit seinen Strohdächern verheerenden Bränden zum Opfer, Heimsuchungen, über die sich manche Bürger auf ganz eigene Art zu trösten suchten. 1703, als das Rathaus in Flammen aufging, sollen die zur Hilfe herbeigeeilten Einwohner zunächst ihren Durst mit den Branntweinvorräten im Ratskeller gelöscht haben, bevor sie symbolisch das Feuer bekämpften. Und es musste erst ein vom Kurfürsten angeheuerter Holländer, Gijsels van Lier, kommen, um nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges Ordnung zu schaffen. Er ließ die Deiche sanieren, um das immer wiederkehrende Hochwasser der Elbe einzudämmen, und sorgte für klare Bau- und Hygienevorschriften.
Nicht Gemeinschaftssinn, sondern Einzelpersonen sind es, die bis in die jüngste Geschichte der Stadt segensreich wirken. Vor dem Rathaus erinnert eine Skulptur an Anna Götze. Um die Not der Kinder zu lindern und ihren Schulbesuch zu unterstützen, verschenkte sie einmal jährlich an jedes Schulkind und an jeden Lehrer Brezeln und Schreibpapier. 1612 verstarb sie, und dieser Brauch wurde bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs aufrechterhalten.
Auf dem Weg zum nahen Elbdeich zeigen sich die schönsten Ansichten des historischen Stadtkerns. Von der St. Katharinen-Kirche aus, deren 40 Meter hoher Glockenturm den ganzen Ort überragt und die im Inneren ein barocker Hochaltater ziert, passiert man zum Teil liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser und stille Kopfsteinpflastergassen. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. In Lenzen gab es auch schon bessere Zeiten, Jahre wirtschaftlicher Blüte und regionaler Bedeutung. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten und arbeiteten hier 45 Schuster und Pantoffelmacher, 20 Schneider und zwölf Tischler, man handelte mit Holz, Tuchballen und Getreide. Postkutschen, die Hamburg und Berlin verbanden, machten hier Halt. Der bescheidene Wohlstand der Stadt ist noch immer zu erahnen.
Die eigentlichen Schätze jedoch, die wahren Sehenswürdigkeiten liegen außerhalb der geschleiften Stadtmauer, und sie sind nicht von Menschenhand. Folgt man der Straße Richtung Fähranleger, so erreicht man zu Fuß nach einer knappen halben Stunde die Elbe, den Strom, der das Schicksal Lenzens und der gesamten Umgebung prägt. „Was wir eins jars doran machen und bauen, das reißt die Elbe des andern jars wider entzwei, also das wir nimmer zum ende komen können“, schrieb 1556 ein resignierter Chronist, und dabei übertrieb er nicht. Immer wieder brachen die Deiche, staute sich das Wasser des Nebenflüsschens Löcknitz, litten die Stadt und die umliegenden Dörfer unter dem Hochwasser. Bis heute wurde dem Fluss sein natürliches Bett nicht zurückgegeben, aber ein Umdenken hat begonnen. Die Natur dankt es mit einer der schönsten Flusslandschaften Europas. Und Lenzen liegt inmitten dieses Biosphärenreservats! Die Gegend erschließt sich nach dem Fall der Mauer vielfältiger denn je. Denn was den Anwohnern vor 30 Jahren noch totbringendes Grenz- und Sperrgebiet war, bot der Natur eine Nische. Im Herbst fallen die Kraniche ein, im Frühjahr die Störche, Graugänse und Komorane bevölkern Wiesen, Tümpel und Buhnen. Sich ungestört in den sandigen Buchten am Flussufer niederzulassen, die vielfältige Fauna und Flora zu bewundern, die Seele baumeln zu lassen, einfach nur staunen – es gibt kaum einen besseren Ort dafür als hier. Der ehemalige Wachturm am Lenzer Deich dient heute als Plattform, von der der Blick den sanften Biegungen der Elbe folgt. Das gegenüberliegende, hügelige Ufer und Auenwaldinseln erreicht man – bei ausreichendem Pegelstand – mit der Fähre. Folgt man flussaufwärts der Elbe Richtung Wittenberge, so kommt man zum „bösen Ort“. Von den Schiffern so genannt, macht hier der Fluss einen Knick von fast 90 Grad und ist deshalb der richtige Platz für ein einmaliges Projekt. Sieben Kilometer Deich werden hier zurückgebaut und der Elbe 420 Hektar Überflutungsfläche zurückgegeben – die denkbar natürlichste Maßnahme zeitgemäßen Hochwasserschutzes. Die angrenzenden Bundesländer Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern liegen keinen Steinwurf entfernt.
Ein unberührtes Moorgebiet von einmaliger Schönheit
Wer ein weiteres Naturschauspiel in aller Stille genießen will, lässt den langen, schlauchartig geformten Rudower See an der Straße nach Karstädt rechts liegen und hält in dem kleinen Dorf Rambow. Von dort aus senkt sich ein kurzer Weg zu einem Moorgebiet hinab, das in seiner Unberührtheit von einmaliger Schönheit ist. Gerade in den frühen Morgenstunden, wenn Nebelschwaden über dem Feuchtgebiet wabern und Tautropfen in den Spinnennetzen wie kleine Diamanten funkeln, lohnt sich der gut ausgeschilderte Rundweg um das Naturschutzgebiet. In der Mitte ein flacher See, an den Rändern seltene Pflanzen wie Sonnentau und Fieberklee, zu beobachten auch Rohrdommeln und Kraniche.
Die Elbe, das Moor, die Burg – dieser Dreiklang macht Lenzen einen Ausflug wert. Am Anfang war die Burg. Und sie bleibt der eigentliche Mittelpunkt der Stadt, ihr architektonisches, archäologisches und naturkundliches Zentrum. Mit dem Besuch der Burg kehren wir zum Anfang der Geschichte zurück. Es ist nicht allein das barocke Hauptgebäude, nicht der 28 Meter hohe, mittelalterliche Turm, nicht das Tee- und Pförtnerhaus oder die reetgedeckte Fachwerkscheune aus dem 17. Jahrhundert, die schon für sich allein beeindruckend sind. Es ist die gesamte Anlage, der man sich am besten durch den Park und den kleinen Auenwald nähert. Knorrige Stieleichen, ein schmaler Wassergraben, der die Löcknitz mit dem Rudower See verbindet, zum Fließ abfallende Terrassen, Brücken, Laubengänge, künstliche Teiche inmitten eines prächtigen Landschaftsgartens – all dies verdankt der Besucher, wie schon so oft in der Geschichte Lenzens, der Initiative Einzelner. Denn so geschichtsträchtig und archäologisch interessant die künstliche Erhebung des Burghügels aus früher Slawenzeit auch ist – erhalten, renoviert und künstlerisch umgestaltet wurde das Ensemble von einem Berliner Fabrikanten in den 20ern und von einem Architekten aus der Hauptstadt in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Pracht währte nicht lange. Nach dem Kriegsende und sozialistischer Enteignung wurde die Burg als Krankenhaus, Entbindungsheim und Erholungsstätte verdienter SED-Veteranen genutzt, geschichtslose Zweckentfremung mit sozialer Komponente. Der Arbeiter- und Bauernstaat musste nun erst einmal untergehen, bevor die Burg wieder an ihr historisches Erbe anknüpfen konnte. Möglich wurde dies durch die Schenkung der Alteigentümer an den Bund Niedersachsen im Jahre 1993, die alleinige Entscheidung einer älteren Dame, die sich dem Naturschutz und dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlte. Jahrelang mit Millionenaufwand renoviert, weisen heute die Aktivitäten auf der Burg gleichermaßen in Vergangenheit und Zukunft. Gleich dreifach bedeutend ist die Burg als Gebäude-, Garten- und Bodendenkmal. Archäologische Ausgrabungen, ein Museum für Stadt- und Heimatgeschichte sowie ein breit gefächertes Angebot an Seminaren und Veranstaltungen bündeln sich unter den Dächern der Gesamtanlage. Kein Wunder, dass neben den jährlich 18.000 Besuchern auch Delegationen und Fachleute aus aller Welt dieses Europäische Zentrum für Auenökologie und Umweltbildung besuchen. Für Unterkunft und Verpflegung ist gesorgt, ein Hotel und Gästehaus sowie ein Biorestaurant sind ganzjährig geöffnet.
Delegationen und Fachleute aus aller Welt kommen vorbei
In den dünn besiedelten Gebieten Brandenburgs ist gern von Leuchttürmen die Rede, die ganze Regionen erhellen sollen. Lenzen ohne die Burg ist keiner davon und kann es nicht sein. Die Stadt mit ihren knapp 2.000 Einwohnern ist überaltert, die Infra- und Verkehrsstruktur ist lückenhaft, die Versorgung mit Ärzten, Schulen und Einzelhandelsgeschäften ist schwach, und all dies liegt versteckt in einem ziemlich toten Winkel der Republik. Die Renovierung und der Erhalt historischer Gebäude hinkt dem drohenden Verfall und Leerstand weit hinterher, sodass im März der Brandenburger Landeskonservator Alarm schlug. Es fehlt an Geld, die Förderkriterien für Privatpersonen sind hoch. Keine allzu glänzenden Aussichten für Lenzen. In der Geschichte waren es stets mutige Einzelpersonen und Initiativen, die sich dem Abwärtstrend entgegen stemmten. Der Fluss, die Burg, das Moor, die Stadt – alles eine Reise wert. Aber die Stadt, der Landkreis und das Land Brandenburg sollten sich vielleicht an die Geschichte Lenzens erinnern, bevor es zu spät ist: Man löscht kein Rathaus, wenn man im Keller zunächst den Weinbrand austrinkt.