Am 20. März 1995 verübten Mitglieder der japanischen Aum-Sekte einen Terroranschlag mit Giftgas in der Tokioter U-Bahn. 13 Menschen starben, mehr als 6.000 wurden verletzt. Viele von ihnen sind bis heute traumatisiert.
Sie werden Oshiya genannt, zu Deutsch „Drücker". Jene Bahnangestellten, die in der Tokioter U-Bahn zu den Hauptverkehrszeiten auf diversen Bahnhöfen zugegen sind, um die Fahrgäste von außen in die überfüllten Züge hineinzudrücken, damit sich die Türen wieder schließen können. Es ist ein Job, den es so nur in der japanischen Hauptstadt gibt, der angesichts von 8,5 Millionen Fahrgästen täglich aber auch absolut notwendig ist, um den Betriebsablauf zu gewährleisten. Immerhin ist die U-Bahn von Tokio mit insgesamt 3,1 Milliarden Fahrgästen im Jahr das am stärksten in Anspruch genommene Netz der Welt.
Auch am Morgen des 20. März 1995 waren die Züge wieder gut gefüllt. Zur Hauptverkehrszeit drückten sich die Menschen dicht an dicht, sie waren regelrecht eingepfercht – und damit den Attentätern hilflos ausgeliefert. An diesem Tag nutzte die japanische Aum-Sekte das allgemeine Gedränge für eine besonders perfide Attacke. In fünf Zügen hatten die Terroristen insgesamt elf in Zeitungspapier eingewickelte Kunststoffbeutel deponiert, die das Nervengift Sarin enthielten. Unmittelbar bevor sie selbst ausstiegen, rammten sie mit ihren Regenschirmen Löcher in die Beutel, um das Sarin freizusetzen. Es war der weltweit erste Terroranschlag mit Giftgas.
Das geruchlose und unsichtbare Sarin war in den 1930er-Jahren von deutschen Forschern ursprünglich als Insektizid entdeckt worden. Nun entfaltete es seine todbringende Kraft gegenüber unschuldigen Menschen. 13 Personen starben bei dem Anschlag, mehr als 6.000 wurden verletzt, 37 von ihnen schwer. „Ich stand ganz vorne an der Fahrerkabine und hielt mich an der Stange neben der Tür fest. Und als ich einatmete, verspürte ich plötzlich einen Schmerz. Nein, eigentlich keinen richtigen Schmerz. Eher blieb mir abrupt die Luft weg – als hätte ich einen starken Schlag erhalten. Ich hatte das grässliche Gefühl, mir würden die Eingeweide aus dem Mund quellen, wenn ich noch einen Atemzug täte. Um mich herum schien ein Vakuum zu herrschen" – so beschrieb die damals 26-jährige Kiyoka Izumi ihre Erfahrungen gegenüber dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami, der für sein Buch „Untergrundkrieg" auch noch weitere Augenzeugen interviewt hat.
Einige der Opfer erblindeten oder sind gelähmt
Anderen Verletzten lief Blut aus der Nase, viele hatten Schaum vor dem Mund oder mussten sich erbrechen. Einige der Opfer erblindeten oder sind seitdem gelähmt. Bis heute leiden viele von ihnen außerdem unter posttraumatischen Belastungsstörungen – manch einer konnte seitdem nie wieder U-Bahn fahren, ohne dass die schrecklichen Erinnerungen wieder hochkamen. Zwar lässt sich festhalten, dass die Zahl der Todesopfer letztlich vergleichsweise niedrig lag. Bei besserer Qualität des Sarins und einer effektiveren Methode der Verbreitung wären wahrscheinlich noch deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen. Dennoch stand ganz Japan unter Schock. Nach dem verheerenden Erdbeben von Kobe mit 4.500 Toten im Januar 1995 erlebte das Land nur zwei Monate später eine erneute Tragödie.
Verantwortlich für den Giftgasanschlag war die Aum-Sekte, auch bekannt als Omu Shinrikyo. Gegründet wurde sie 1984 von Chizuo Matsumoto zunächst noch unter dem Namen Omu Shinsen no Kai als Verein für Yogaübungen, die psychische Kräfte aktivieren sollten. Seit 1986, nachdem Matsumoto während einer Reise im Himalaya nach eigenen Angaben „die höchste Wahrheit" erhalten habe, trug sie ihren bekannten Namen und wandelte sich zunehmend zu einer religiösen Gruppierung. Ihr Gründer nahm in dieser Zeit den Namen Shoko Asahara an.
Asahara stammte aus armen Verhältnissen. 1955 wurde er in einem Dorf auf der südjapanischen Insel Kyushu geboren, sein Vater stellte Reisstrohmatten her. Von Geburt an war Asahara auf einem Auge blind, auf dem anderen stark sehbehindert. Vergeblich bewarb er sich an der Universität in Tokio. Nachdem er durch die Aufnahmeprüfung gefallen war, wandte er sich dem Studium der Akupunktur und der traditionellen chinesischen Medizin zu. Er bezeichnete sich selbst als Reinkarnation von Shiva und Jesus Christus; die Ideologie seiner Sekte war dementsprechend eine wirre Mischung aus Hinduismus, Buddhismus und Christentum. Trotzdem waren seine Anhänger überwiegend gut gebildete Akademiker, sogar Promovierte und Wissenschaftler. Die fünf Attentäter vom 20. März hatten jeder einen Abschluss von den prestigeträchtigsten Universitäten des Landes. Die Aum-Sekte wirkte nicht nur in Japan. Ableger existierten in New York, Sri Lanka und Bonn, vor allem aber in Russland, von wo 1995 sogar etwa drei Viertel der insgesamt rund 40.000 Anhänger stammten. In Japan versuchte man sich zunächst auch politisch zu engagieren – Asahara und weitere Mitglieder kandidierten sogar für die Parlamentswahlen, bekamen jedoch in ihren Wahlkreisen jeweils die wenigsten Stimmen. Danach radikalisierte sich die Gruppe zunehmend. Sie folgte einer apokalyptischen Ideologie; sie war getrieben von dem Wahn, die Welt mit Gewalt „erlösen" zu können. Tonnenweise ließ Asahara dafür das tückische Nervengift Sarin produzieren.
Anschlag sollte geplante Razzia verhindern
Erstmals zum Einsatz kam das Gift am 27. Juni 1994, als Aum-Mitglieder in Matsumoto in der Nähe von Nagano einen Sarin-Anschlag auf die Richter eines Grundstücksprozesses verübten, in den die Sekte verwickelt war. Sieben Menschen starben, 58 wurden verletzt, aber niemand brachte diesen Anschlag zunächst mit Omu Shinrikyo in Verbindung. Dennoch geriet die Gruppe zunehmend ins Visier der Ermittler. Tatsächlich hatte der Anschlag auf die Tokioter U-Bahn neben allen Erlösungsfantasien auch ganz praktische Gründe: Er sollte eine geplante Polizei-Razzia des Hauptquartiers der Aum-Sekte in Kamikuishiki verhindern.
Zwei Monate nach dem Anschlag, am 16. Mai 1995, wurde Shoko Asahara dort in einer drei Meter langen und nur 50 Zentimeter hohen Geheimkammer von der Polizei aufgegriffen. 2004 wurde der Guru vom Tokioter Bezirksgericht und zwei Jahre später auch vom Obersten Gerichtshof zum Tode verurteilt.
Zu seinen Motiven schwieg Asahara während der Prozesse und gab überhaupt ein jämmerliches Bild ab. Zwölf weitere Mitglieder der Sekte, die in den Anschlag verwickelt waren, wurden ebenfalls zum Tode verurteilt, darunter die Attentäter sowie die beiden Forscher, die das Sarin hergestellt hatten. Am 6. Juli 2018 wurde Asahara zusammen mit sechs weiteren Verurteilten gehängt. Die anderen sechs wurden kurz darauf, am 25. Juli 2018, hingerichtet.
Bis heute hat die umbenannte Sekte 2.000 Mitglieder
Direkt nach dem Anschlag hatten die Behörden zudem das Vermögen der Aum-Sekte konfisziert und die Konten eingefroren; zudem wurde die Sekte fortan streng überwacht. Ende 1995 erließ das japanische Parlament außerdem eine Novelle des Gesetzes über die Religionsgesellschaften, durch die die staatlichen Befugnisse zur Untersuchung religiöser Gruppierungen bei einem Verdacht auf einen Gesetzesverstoß deutlich ausgeweitet wurden. Zudem war nun das Bildungsministerium zuständig, sobald eine Religionsgesellschaft über eine Präfektur hinaus aktiv tätig wird.
Verboten wurde die Aum-Sekte in Japan allerdings nicht – im Ausland allerdings schon. Die „Prüfungskommission für Öffentliche Sicherheit" befand 1997, dass von der Gruppe keine Gefahr mehr ausgehe. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits zahlreiche ehemalige Anhänger von Omu Shinrikyo abgewendet – die Mitgliederzahlen sanken nach dem infamen Anschlag drastisch. Im Jahr 2000 benannte sich die Sekte schließlich in Aleph um. Sie soll immer noch knapp 2.000 Anhänger haben.