Deutschlands größte Compagnie ist wieder einmal ohne Leitung. Die Doppelspitze Waltz/Öhmann hat sich mit dem Senat auf eine Vertragsauflösung zum
31. Juli geeinigt. Unklar ist, wie es weitergeht.
Die langfristig ergangene Einladung zur Jahrespressekonferenz kurzfristig abgesagt, den Spielplan für die nächste Saison nur per E-Mail versendet – so lakonisch endet die Kurzzeit-Intendanz von Johannes Öhman und Sasha Waltz beim Staatsballett Berlin. Offiziell erklärte Öhman vorab, er wolle künftig wieder näher bei der Familie sein. Dass Stockholm nicht im Berliner S-Bahn-Bereich liegt, wusste er schon bei Amtsantritt. Verlassen hatte er dafür die Ballettdirektion der Oper Stockholm, übernehmen wird er nun das Stockholmer Tanzhaus – Karrieresprung oder nicht. Bei Berlins Staatsballett musste er sich die Leitung mit Sasha Waltz teilen, die allerdings erst ein Jahr später, zu Beginn dieser Spielzeit, offiziell hinzustieß.
Die Leistung von Sasha Waltz im zeitgenössischen Tanz ist unbestritten. Doch selbst wer seine Werke mit klassischen Compagnien beispielsweise in Paris oder Mailand einstudiert hat, ist nicht unbedingt berufen, eine klassische Compagnie in all ihrem Tagesgeschäft auch zu leiten. Sasha Waltz mag das gespürt haben und holte sich deshalb einen Co an die Seite: Johannes Öhman, den sie durch ihre Zusammenarbeit kannte, als er noch Chef des Balletts an der Oper Göteborg war. Eine gute Entscheidung, denn die erste Saison unter Öhmans Allein-Intendanz, aber in Absprache mit Waltz, lief verheißungsvoll.
Vorausgegangen war der Berufung von Waltz ein Proteststurm sondergleichen, sowohl seitens der Compagnie, die in einer Petition rund 20.000 Unterstützer aufbringen konnte, als auch bei Teilen von Presse und Publikum. Erbitterte, teils harsch überzogene Schlachten zum Für und Wider waren die Folge. Hauptkritik war, dass die Mitglieder des Staatsballetts erst aus den Medien von der Berufung erfuhren, also in keiner Weise in den Entscheidungsprozess einbezogen waren – ein ausgesprochen mieser Stil der Politik.
Lakonischer Abschied
Dass die Situation in der Compagnie sich allmählich beruhigte, war den Gesprächen des Leitungsdoppels mit den Tänzerinnen und Tänzern zu verdanken. Ihre Befürchtungen, das Staatsballett würde spornstreichs in ein zeitgenössisches Ensemble umfunktioniert, wurden so zerstreut. Und Waltz konnte zeitgenössische Tänzer für ihre Projekte engagieren, wie es einst Carolyn Carlson an der Pariser Oper vorgemacht hatte; 92 Mitglieder zählt nun die erweiterte Compagnie. Neu ins Repertoire kamen in der ersten Spielzeit Zweiteiler mit Arbeiten von Sharon Eyal, die gleich zum Publikumsliebling wurde, Anouk van Dijk respektive Stijn Celis sowie ein Dreiteiler mit Stücken von George Balanchine, William Forsythe und Richard Siegal. Alexei Ratmanskys Rekonstruktion von Marius Petipas „La Bayadère" und Frank Andersens „La Sylphide" bedienten die Klassik, und auch der bewährte „Nussknacker" kam wieder zu Ehren. Ein ausgewogenes Programm, in fliegender Hast gebaut, weil Amtsvorgänger Nacho Duato ein Jahr vor seinem Vertragsende das Weite gesucht hatte.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Staatsballetts Berlin: Gegründet wurde es am 1. Januar 2004 aus den drei Ensembles an Berlins Opernhäusern. In Castings qualifizierten sich 51 Mitglieder des Balletts an der Staatsoper Berlin, 20 aus der Deutschen Oper, ein Tänzer aus der Komischen Oper und gut 20 Neuzugänge. Die Zusammenlegung war Reaktion auf die jahrelange Kritik an der künstlerischen Qualität, dem Spielplan und der mangelnden Vision der Ensembles. Intendant der Über-Compagnie wurde mit Vladimir Malakhov, bereits seit 2002 Ballettdirektor an der Lindenoper, ein Weltstar des Balletts. Ihm standen 88 Tänzer zur Verfügung, was massiven Stellenabbau gegenüber den ursprünglich drei Ensembles bedeutete. Zu bespielen haben sie bis heute alle drei Opernhäuser.
Zum Vergleich: Die Pariser Oper tritt mit ihren gegenwärtig 152 Tänzern „nur" im Palais Garnier und der Opéra Bastille auf – ganz zu schweigen vom Bolschoi-Ballett in Moskau und dem Mariinsky-Ballett in St. Petersburg mit ihren um die 220 Tänzern.
Für das Staatsballett Berlin schien dennoch eine goldene Ära angebrochen. Malakhov, bekennender Verehrer des romantischen Balletts, holte Klassiker dieser Zeit ins Repertoire, und die Zuschauer folgten ihm zunächst willig, zumal er selbst meist die Hauptrollen tanzte und sich so eine beachtliche Fangemeinde sichern konnte. Man kam, um den begnadeten Wundertänzer zu erleben, der er lange auch war, etwa in seiner Eigenproduktion von „La Bayadère".
Mit weiteren Choreografien und denen seiner Gäste hatte er indes weniger Fortune. Prekär wurde die Lage, als er sich zwischen seinen Multi-Tätigkeiten als Intendant, erster Solist, Choreograf und internationaler Gaststar immer mehr zerrieb. Spürbar entglitt ihm da die Leitung. Nach komplizierten Operationen war zudem sein Radius als Tänzer merklich eingeschränkt, ohne dass er vom Tanzen lassen mochte. Von Dolchstoß-Legende war die Rede, als er nach zehn erfolgreichen Jahren nicht unbedingt freiwillig die Intendanz verließ.
Das Ensemble wird mehr einbezogen
Das neue Kapitel beim Staatsballett, das seit 2011 über ein komfortables Domizil mit drei Ballettsälen an der Deutschen Oper verfügt, glich dann eher einem Trauerspiel. Berufen als neuer Intendant wurde von der Politik, ohne jede Mitsprache des Ensembles, der Spanier Nacho Duato, einst wunderbarer Tänzer im Nederlands Dans Theater und nun weltweit gespielter Choreograf. War Malakhov ein Chef zum Anfassen, nahbar für jedermann, einer, der fröhlich umtriebig in Berlin unterwegs war und so zum Gesicht des Staatsballetts wurde, einer, der die Truppe weit über die Stadt hinaus mit Glanz umgab und brillante Kontakte knüpfte, so gehörte Duato der Fraktion der Introvertierten an. Er glich mehr einer Geistererscheinung als einem für seine Compagnie zäh wirkenden und werbenden Leiter. Entsprechend sank die Popularität des Ensembles, blieben Plätze bei Aufführungen leer, zumal er auch im Repertoire eine unglückliche Hand bewies.
Ob er per Vertrag dazu angehalten war oder nicht – seine Choreografien dominierten den Spielplan, sämtlich Übernahmen aus produktiven Phasen. Weshalb es ihm nicht gelang, renommierte Gäste ans Haus zu holen, bleibt sein Geheimnis. Dass auch eine massive Streikaktion der Compagnie für bessere Arbeitsbedingungen in seine Direktion fiel, verbesserte die Situation nicht. Dem äußeren Druck beugte er sich durch vorzeitige Lösung seines Vertrags. Die Compagnie wurde wieder einmal nicht in die Nachfolgesuche einbezogen.
Die Achterbahnfahrt für das Staatsballett Berlin dreht nun in die nächste Runde. Waltz/Öhman gehen gemeinsam zum Ende der Saison, Waltz vielleicht eher ungern, doch aus Fairness. Beide hoffen, wie sie im abschließenden Statement schreiben, dass sie „mit unserem vielfältigen Repertoire einen Grundstein für die Neuausrichtung des Staatsballetts legen konnten". Ihren Spielplan für 2020/21 hinterlassen sie dem Ensemble als Erbe. Für eine Uraufführung ist der gegenwärtig hoch gehandelte Norweger Alan Lucien Øyen verpflichtet, Werke steuern David Dawson, Wayne McGregor und erstmals Mats Ek bei, Marcia Haydée wird „Dornröschen" einstudieren. Ins Repertoire zurück kehrt John Crankos „Onegin", dort bleibt „Symphonie 2020", Sasha Waltz’ erste und einzige Kreation, und zum Gastspiel wird das Tanztheater Wuppertal mit Pina Bauschs „Nelken" erwartet.
Interimistisch leiten wird all das Vize-Intendantin Christiane Theobald, die damit ein Revival als Übergangschefin erlebt. Die neue Intendanz will Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), beraten von einem noch unbenannten Expertengremium, bald finden, und auch das Ensemble soll dieses Mal mitreden dürfen. Wer sich als nächster auf den Intendanten-Schleudersitz beim Staatsballett Berlin begibt, ob ein klug lenkender Impresario oder ein prägender Choreograf – man darf neugierig sein.