Roy Andersson verzaubert mit „Über die Unendlichkeit" Kritik und Publikum. Der Film ist eine elliptische Reflektion über Gott und die Welt in tragikomischen Bildern, gespickt mit Selbstironie und schrägem Humor. Und analysiert dabei noch den Menschen und seine Umwelt.
Eine wahrhaft göttliche Komödie", bejubelte selbst das sonst so konservative britische Tagesblatt „The Guardian" Roy Anderssons neuesten Geniestreich „Über die Unendlichkeit". In der Tat entfaltet der Independent-Merlin mit seiner elliptischen Exkursion in den menschlichen Hades eine insistierende Sogwirkung: Da schwebt ein namenloses Pärchen durch den grauen Himmel über die völlig zerbombte Rhein-Metropole Köln. Da bindet auf weiter, menschenleerer Flur ein Vater seiner kleinen Tochter liebevoll die Schuhe zu, da tänzeln pubertierende Lolitas scheinbar grundlos vor einem Café. Es werden dem verdutzten Zuschauer jedoch auch die Gräuel des Zweiten Weltkrieges mahnend um Augen und Ohren geschlagen: Wir bestaunen voyeuristisch Adolf Hitler mit Martin Bormann in seinen letzten Stunden im zerbombten Bunker vor dem baldigen Exitus, bei dem das schneidige Begrüßungsritual „Sieg Heil!" zur bloßen Farce verkommt. Oder wir betrachten bestürzt den Terror von Kriegen, wenn Andersson absolut siegessichere deutsche Landser auf ihrem Kapitulationsmarsch in Richtung Gefangenschaft entkräftet durch das klirrend kalte Schnee- und Eispanorama Sibiriens marschieren lässt.
Wundersam wandert als Leitfaden ein betagter Herr (Martin Serner) durch das großurbane Kölner Territorium und fragt wahllos unbeteiligte, abweisende Passanten nach dem Weg: „Ich habe meinen Glauben verloren, was soll ich nur tun?", um sich als lakonische Verbalklatsche das unfreundliche „Das tut mir sehr leid, ich muss meinen Bus bekommen" einzufangen. Auch beim Zahnarzt (Thore Flygel) wird der Verzweifelte harsch abgewiesen: Seine Nadelphobie tröstet der Dentist mit nicht gerade ermutigenden Worten: „Ich kann auch ohne Betäubung."
Traumgleiches Umherschweifen
Bislang wussten lediglich eingefleischte Arthaus-Jünger, dass der schwedische Bildvirtuose Andersson („Das jüngste Gewitter") mit seiner gemäldegleichen Lichtschreibschrift selten, aber umso beeindruckender das gewaltige Erzählmedium Film als lebendes Tableau adelt. Stets mit einer nachhaltigen und nachhallenden Bildsprache, bei der Edward Hopper, Agnes Varda, Aki Kaurismäki, Robert Bresson, Jim Jarmusch, Lars von Trier, Buster Keaton und Charlie Chaplin als Inspirationsquellen gedient haben könnten. Diese erträumten Wirklichkeiten im Sinne von Federico Fellinis Filmphilosophie werden hier durch Jessica Louthander als Erzählerin wie eine Märchentante in „Tausendundeine Nacht" aus dem Off kommentiert. „Ich sah einen Mann." Kurz, kernig, kontemplativ und konzentriert.
Triste Tatsachen treffen dabei auf tollpatschige Tagträumereien, denn die Gedanken waren von Anbeginn der menschlichen Existenz frei und sollten es auch zukünftig bleiben. Das ist die einzigartige Kunst und Botschaft des 77-jährigen mit Filmpreisen überhäuften Maestros Andersson: aus dem Übel Unvorhergesehenes und Überraschendes zu kristallisieren.
Geisterhaft mit historischen Referenzen
In der epischen Kürze liegt Anderssons manipulative filmische Würze: Er hat mit dieser puristischen Filmerzählung eine tragikomische Filmperle produziert, die in stiller Wucht und Wortlosigkeit alltäglichen Wahnsinn wunderschön widerspiegelt und den Zuschauer mit einem versonnenen Lächeln aus dem Kino entlässt. Seine Rezeptur angesichts der derzeitigen globalen Götterdämmerung lautet: „Wenn wir uns der Verletzlichkeit der Existenz bewusst geworden sind, was war, was ist und was sein wird, dann gehen wir mit allem, was man hat und uns ausmacht, respektvoller und vorsichtiger um", bekräftigte er auf der letztjährigen Pressekonferenz in Venedig. Lohn der schrill verrückten und eindringlich entrückten Streifens: der Silberne Löwe von Venedig 2019 sowie der Europäische Filmpreis für die „Besten Visuellen Effekte" als Lohn für ein modernisiertes Märchen.