Europa steht still. Die Italiener haben angefangen, der Rest ist ihnen gefolgt. So soll das Coronavirus bei der Verbreitung gestoppt werden. Ob es klappt, ist ungewiss. Virologen jubeln, die Börse ist zurückhaltend und die Deutschen lernen das Nichtstun.
Was am Freitag, den 13. noch ziemlich erwartbar begann, sollte sich übers Wochenende bis zum Montag zu einer der größten Herausforderungen der Republik entwickeln. In eng getakteten Pressekonferenzen nach Krisenbesprechungen auf allen Ebenen näherte sich Deutschland über Schul- und Kitaschließungen, Grenzkontrollen und Einreiseverboten bis massiven Einschränkungen mit Schließung von Kneipen, Vereinsheimen, Kirchen und einem Großteil der Geschäfte (ausgenommen alles, was für den täglichen Bedarf notwendig ist) schließlich den Maßnahmen, die europäische Nachbarn schon ergriffen hatten. Das alles in der Hoffnung, die letzte Eskalationsstufe, eine Ausgangssperre wie sie bereits in Italien, Spanien oder Frankreich gilt, vermeiden zu können. Vorausgesetzt, Menschen halten sich vernünftigerweise an das Gebot, Ansammlungen von mehr als fünf Personen zu meiden, und die Infektionszahlen halten sich in den auch vom Gesundheitssystem bewältigbaren Grenzen.
Was sich längst abgezeichnet hatte, wurde ab Freitag schrittweise Realität.
Mit dem Gongschlag zur ersten Stunde war für Schüler, Lehrer und Eltern in Bayern und dem Saarland klar, dass nun die längsten Osterferien der Schulzeit angesagt waren. Im Verlauf des Tages konnten sich dann auch noch die Schüler in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Berlin darauf einstellen.
Dass sich zuvor Saarländer und Bayern belauert haben sollen, wer wohl als Erster seine Bildungsstätten schließen würde, ist eine Randnotiz. Die Kanzlerin hatte noch kurz zuvor Schulschließungen zwar „eine Option" genannt, dabei aber eher Einzelmaßnahmen der Länder und nicht eine flächendeckende Maßnahme gemeint.
Am Ende dieses Freitags, dem 13. März, hatten deutschlandweit alle Kinder vorgezogene Osterferien und obendrein alle deutschen Unternehmen eine unbegrenzte Kreditzusage des Bundes.
Es folgten am Sonntag die Ankündigung von weitgehenden Grenzschließungen, Ausnahme Versorgung (Lkw) und Pendler, und am Montag dann der Schritt, der das Land zu großen Teilen lahmlegen sollte, alles mit dem Ziel, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 möglichst in beherrschbaren Grenzen zu halten.
Noch 48 Stunden vor den Schulschließungen konnte man anhand der Beispiele der Nachbarländer ahnen, welche Entwicklung auch auf Deutschland zu kommt, ganz überrascht war man von der Dynamik also nicht. Die Kanzlerin selbst schien zunächst fast untergetaucht. Zwei Virologen und ein Gesundheitsminister beherrschten die Bühne. Es gehörte wohl auch zum Krisenmanagement, dass die Kanzlerin erst öffentlich auftritt, wenn es der Ernst der Situation erfordert.
Virologen beherrschen die Bühne
Die Regierung sei willens, alles zu tun, was die Krise eindämmen könne. Der Satz erinnerte viele an den Anfang der Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren, als die Kanzlerin versicherte, dass das mühsam Gesparte nicht bedroht sei. Dann ging Merkel gleich ins Praktische über. Während ihrer Pressekonferenz hätte sie bemerkt, dass sich viele Journalisten immer wieder mit den Fingern ins Gesicht gefasst hätten. Das sollten die sich jetzt mal abgewöhnen, wies die Kanzlerin die Berichterstatter an. Zukünftig gibt es auch keine Hand mehr zur Begrüßung, dafür sollen wir uns alle länger in die Augen schauen. Praktische Tipps fürs Leben von der gelernten Naturwissenschaftlerin – und noch kein Hinweis und keine Andeutung darüber, was 48 Stunden später Realität wurde.
Beim Treffen der Ministerpräsidentenkonferenz am darauffolgenden Tag wollte die Regierungschefin ihrem Ärger Luft machen, dass die Empfehlungen des Bundes von den Ländern zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht als Auftrag übernommen wurden. Vor allem das völlige Chaos bei der Absage von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Zuschauern hatte in der Bevölkerung den Eindruck erweckt, die Regierung habe das mit den Kriterien zur Absage von Veranstaltungen nicht im Griff. Kann sie auch nur bedingt, der Bund kann tatsächlich nur „dringende Empfehlungen" geben. Trotzdem hat sich die Kanzlerin sichtlich darüber geärgert. Bei „Empfehlungen vom Bund auch mal annehmen" kam Merkel bei den Länderchefs dann auch nicht viel weiter als vor ihr schon Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und sein Kabinettskollege aus dem Innenressort Horst Seehofer.
Bei der Ministerpräsidentenkonferenz war jedem zumindest im Grundsatz klar, dass sich nach dem bundesweiten Tohuwabohu bei den Veranstaltungsabsagen Ähnliches nicht noch mal bei der Kinderbetreuung, dem Schulunterricht und den Vorlesungen an den Unis wiederhole. Doch auch hier war eine einheitliche Linie beinahe unmöglich. Wissenschaftsministerin Anja Karliczek sprach sich gegen eine flächendeckende Schließung der Kitas und Bildungsstätten aus. „Das macht keinen Sinn, die Kinder nicht in die Schule zu schicken, damit sie dann gemeinsam auf dem Spielplatz rumtoben", so Karliczek. Da waren die zuständigen Minister der Länder generell schon mal anderer Meinung und für schulfrei, aber bei der Ausführung dann wieder gar nicht so einig. Dabei ging es vor allem um die Betreuungsfrage für Berufstätige. Hessen und Mecklenburg-Vorpommern hatten sich etwas juristisch Raffiniertes ausgedacht: Sie hoben die Schulpflicht auf, aber die Schulen waren trotzdem geöffnet. Damit war es an den Eltern, ob sie nun ihre Kinder schickten oder nicht. Das Saarland und Bayern preschten dann vor und verkündeten als erste, dass in ihren Bundesländern generell die Kitas und Bildungsstätten geschlossen bleiben würden, dafür wurde eine Notbetreuung in Aussicht gestellt. Die anderen Bundesländer zogen schließlich nach. Am Ende gab es zumindest in der Schulfrage eine bundesweit einheitliche Linie.
Die Frage, ab welcher Größenordnung Veranstaltungen untersagt werden sollten, hat sich ab Montag endgültig geklärt. Seither ist das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren, selbst Gottesdienste fallen aus. Als zu vermeidende Menschenansammlung gilt bereits eine Gruppe ab fünf Personen. Keine Kneipe, Café, Bar, Theater, Oper, Sauna, Fitnessstudio oder Schwimmbad hat mehr offen. Einzige Ausnahme: Restaurants dürfen begrenzt offen bleiben, weil sie ja zur Nahrungsaufnahme der Bevölkerung beitragen. Die Entscheidung erscheint nachvollziehbar, ist aber unterm Strich nicht so richtig schlau. Innerhalb von 24 Stunden wurden beispielsweise beinahe alle Restaurationen in der Berliner Innenstadt zu heimlichen Trinkhallen umfunktioniert.
Eine Kreditzusage, die wie eine Panzerfaust wirkt: die „Bazooka"
Die wirtschaftlichen Folgen sind noch nicht wirklich absehbar. Keiner der betroffenen Kleinunternehmer kann mal einfach fünf Wochen Urlaub machen und seine Ladentür zusperren. Aber auch bei Dienstleistern und im produzierenden Gewerbe drohen gigantische Einnahmeausfälle. Darum haben sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf die „größte Kreditlinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" geeinigt. Nach eigenen Angaben tüftelten die beiden bereits seit Ende Februar an dem monströsen Rettungsvorhaben eines „unbegrenzten Kredits" für die beruflich und gewerblich Betroffenen der Corona-Pandemie. Doch bei der Präsentation des unbegrenzten Mega-Kredits merkt man Scholz und Altmaier das Unbehagen an. Beide geben sich überzeugt von der Richtigkeit des Unterfangens und ziemlich martialisch. Der sonst eher nüchterne Mann der schwarzen Null, Finanzminister Olaf Scholz, spricht in Anbetracht von einer zu vergebenen Kreditsumme von mindestens 580.000.000.000 Euro von der „Bazooka", die er da mit Altmaier rausgeholt hat. Auf Nachfrage, ob denn noch mehr in seinem Waffenarsenal stecke, verweist Scholz auf die „Kleinwaffen", die er da noch für den ein oder anderen Fall in der Hinterhand halten würde.
Als Scholz das Wort „Bazooka" in den Mund nimmt, schaut ihn selbst Peter Altmaier mit großen Augen an. Wie prekär muss die wirtschaftliche Situation tatsächlich sein, wenn der leise, feine Olaf Scholz zum Sprech-Rambo wird! Wirtschaftsminister Altmaier verrät es schließlich selbst, als er einräumt, dass vermutlich nicht nur Deutschland in den kommenden Monaten die Kredit-Bazooka braucht. Vor allem Italien, Spanien, aber auch Frankreich sind dringliche Bazooka-Kandidaten. Der kleine Unterschied: Deutschland kann mal eben eine halbe Billion Euro und mehr als Bürgschaft versprechen, das Geld ist beim EU-Primus im Zweifelsfall da. Dies ist zumindest für Italien oder Spanien in diesen Dimensionen mehr als fraglich und auch Frankreich dürfte Schwierigkeiten bekommen, seinen Unternehmern und Firmen eine unbegrenzte Kreditlinie zu versprechen. Wirtschaftsminister Altmaier verweist da auf die deutsche Solidarität, auf die sich die anderen EU-Staaten auf jeden Fall verlassen können. Was das heißt, bekam Olaf Scholz bereits beim ersten EU-Finanzministergespräch nach der Ausrufung des Corona-Notstands in Europa und der Ankündigung des „Bazooka-Kredits" zu spüren. Der martialische Begriff hat einen Nachteil: Er wird in jeder Sprache sofort verstanden, ohne viel zu erklären. Aus Brüssel berichten mehre Quellen übereinstimmend, dass es mindestens fünf „Bazooka-Kandidaten" gibt, die das Ding allerdings nicht allein stemmen können. Für Scholz dürften die kommenden Wochen auf dem EU-Parkett recht anstrengend werden.
Das gilt aber auch für Bundesinnenminister Horst Seehofer, der kommt beruflich gar nicht erst bis nach Europa, sondern hat genug an den geschlossenen deutschen Grenzen zu tun. Noch immer gibt es keinen Plan, was zu machen ist, sollten die ersten Flüchtlinge mit dem Verdacht auf Corona an der Grenze auftauchen. In den Transitzentren können sie dann nicht untergebracht werden, dort gibt es keine Isolierstationen. Im nächstliegenden Krankenhaus geht aber auch nicht, erstens nicht zuständig, zweitens eine Kapazitätsfrage. Das Technische Hilfswerk prüft nun den Aufbau von provisorischen Corona-Stationen. Allerdings verfügt das THW über kein entsprechendes Isolier-Zeltmaterial, also über Zelte mit Doppelschleuse. Hätte Horst Seehofer nicht schon graue Haare, spätestens jetzt wäre es an der Zeit. Doch Seehofer ist ein Mensch, der von Natur aus gern zupackt, beziehungsweise zupacken lässt. Bereits nachdem in Italien der Notstand verfügt wurde, hat auch der deutsche Innenminister sofort reagiert und zusätzliche Bundespolizisten nach Bayern beordert. Das war in der Woche vor der bayerischen Kommunalwahl, die allen Bedenken zum Trotz stattfinden sollte. Die Grenzschützer sollten helfen, Corona-Verdachtsfälle aufzuspüren. Doch die ganze Aktion verläuft bis heute eher mit angezogener Handbremse, denn die Bundespolizisten besitzen nicht die nötigen Thermometer, was in diesem Fall allerdings das kleinere Problem ist. Schwerer wiegt, dass die Polizei des Bundes keine Vollschutzanzüge in ihrer Ausrüstung hat. Sollten die Beamten also tatsächlich, beispielsweise in einem Zug, auf einen Verdachtsfall treffen, könnten sich dazu gleich noch drei, vier Bundespolizisten mit in Quarantäne begeben. Vermutlich innerhalb einer Woche wäre so eine Hundertschaft dann außer Dienst. Auch an der Grenze zwischen dem Saarland und dem benachbarten Frankreich gab es ähnliche Bilder, als Kontrollen zur Region „Grand Est" eingeführt wurden, nachdem das Robert-Koch-Institut die ostfranzösische Großregion zum Krisengebiet erklärt hatte. Die in den vergangenen Corona-Notstandswochen operierenden Politiker beschleicht kollektiv das Gefühl, wie man es auch macht, macht man es doch immer irgendwie verkehrt. Das Virus sorgt politisch auch für ungeahnte Wendungen, die von den Betreffenden zumindest innerlich als Genugtuung verbucht werden könnten.
Politische Termine werden hinausgeschoben
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gehört zu diesem Kreis. Sie sollte eigentlich bereits am 26. April als CDU-Parteivorsitzende ihr Amt abgeben, ihre Konkurrenten laufen sich ja schon warm. 1.001 Delegierte sollen zwischen Norbert Röttgen, Friedrich Merz und dem Team Armin Laschet/Jens Spahn entscheiden. Doch 1.001 Delegierte sind nach Corona-Veranstaltungs-Lesart schon mal mindestens Einer zu viel. Selbst wenn man den Parteitag ohne Gäste, sozusagen als Geisterparteitag, durchgeführt hätte. Nun wurde das Treffen auf unbestimmte Zeit verschoben, und Annegret Kramp-Karrenbauer bleibt so lange Parteivorsitzende. Dass der Sonderparteitag noch vor den Sommerferien stattfindet ist eher unwahrscheinlich. Niemand kann sagen, wie lange die Corona-Gefahr als „hoch" eingeschätzt wird, und dann sind satzungsgemäße Einladungsfristen einzuhalten. Dann bliebe vermutlich noch ein Sonderparteitagstermin nach den großen Sommerferien, vielleicht im September. Doch das macht fast keinen Sinn, denn der ordentliche Bundesparteitag ist für den 4. Dezember in Stuttgart angesetzt. Mit Rücksichtnahme auf die Parteifinanzen erscheint es von daher mehr als wahrscheinlich, dass Annegret Kramp-Karrenbauer also doch bis Dezember CDU-Vorsitzende bleibt, so wie sie es auch ursprünglich vorgeschlagen hatte.
Inzwischen hat sich die Lage in Europa weiter verschärft. Frankreichs Präsident Macron hat eine Ausgangssperre verhängt, einen Tag, nachdem trotz Bedenken in Frankreich die erste Runde landesweiter Kommunalwahlen über die Bühne ging. Stichwahlen sind bis auf weiteres verschoben.
Was zusätzlich die Arbeit der Behörden erschwert, sind Spekulationen und Falschmeldungen. „Das ist Gift", sagt Saar-Ministerpräsident Tobias Hans, der einen eigenen Corona-News-Room einrichten lässt, über den die Bevölkerung an verlässliche Informationen kommt.