Das Thema steht schon länger auf der Agenda: Wie sozial ist unsere Gesellschaft eigentlich noch? Hate Speech, Fake News und Aggression treffen in Corona-Zeiten auf eine ungeahnt engagierte und kreative Hilfsbereitschaft und Solidarität.
Zettel an Haustüren, Apps zum Hilfe organisieren, Vereine, die im Ort Nachbarschaftshilfe anbieten. In der Krise zeigt sich, was zu normalen Zeiten fast schon verloren schien.
„Normale" Zeiten, also die Zeiten „vor Corona", waren von ganz anderen Schlagzeilen dominiert. Die Frage, wie sozial unsere Gesellschaft (noch) ist, steht schon lange auf der Agenda.
Dass Gaffer die Arbeit von Hilfskräften erschweren, war nicht neu, dass Hilfskräfte im Einsatz aggressiv angegangen und angegriffen werden, hat dann doch eine andere Dimension erreicht. Die Polizei berichtete schon länger über zunehmende Aggressionen und Gewaltbereitschaft, und die schien sich nun überall breitzumachen. Lehrer griffen zu öffentliche Hilferufen, Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen mussten sich auf unangenehmen Publikumsverkehr einstellen. Und in den letzten Wochen sind die Aggressionen, denen sich auch Kommunalpolitiker vor Ort (auch ehrenamtliche) ausgesetzt sehen, zu einem längst überfälligen Thema der öffentlichen Diskussion geworden.
Mit den unsäglichen Hassorgien im Netz schienen bislang geltende Hemmschwellen und Grenzen auch im realen Leben zu bröckeln. Das Land schien in einer sich immer schneller drehenden Spirale festzustecken, in der Aggressionen zum Alltagsbild wurden. Das soziale Gesicht, das es nach wie vor gab, verblasste immer mehr hinter den Schlagzeilen über Eskalationen. Das gesellschaftliche Leben schien zunehmend ungemütlicher.
Solidarität ist noch lange nötig
Vor gut anderthalb Jahren hat Annegret Kramp-Karrenbauer, damals noch als Generalsekretärin der CDU, eine Debatte um ein Dienst-Pflichtjahr für Männer und Frauen gleichermaßen angestoßen. Junge Menschen sollten ein Jahr lang ihrem Land dienen, ob in der Bundeswehr oder beim THW, oder aber eben in sozialen Bereichen. Ein Gedanke dabei war auch, dass sich damit ein anderer Blick auf die Situation anderer und für die Gesellschaft entwickelt. Eine Hoffnung auch gegen den zunehmenden Vertrauensverlust gegenüber gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Institutionen. Der Vorschlag war, wie nicht anders zu erwarten, heftig umstritten. Die Debatte ging aber dann, sicherlich auch den Personalquerelen bei SPD und CDU geschuldet, ziemlich unter.
Bereits jetzt können junge Menschen ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in den unterschiedlichsten Bereichen absolvieren – und machen davon vielfältig Gebrauch. Die Erfahrungen zeigen jedenfalls, dass dieses freiwillige Jahr in aller Regel kein verlorenes Jahr für die jungen Menschen ist, im Gegenteil. Die letzten Wochen im Zeichen der Corona-Krise erwecken den Eindruck, als seien weite Teile Deutschlands in ein soziales Jahr eingetreten. Im gesamten Gesundheits- und Pflegebereich ist das Engagement jedes einzelnen Beschäftigten und Helfers bewundernswert, trotz zunehmend schwierigerer Bedingungen. Das gilt durch die Bank für alle, die in irgendeiner Art derzeit mit den außergewöhnlichen Umständen zu kämpfen haben.
Ebenso beeindruckend sind Bereitschaft, Fantasie und Kreativität zur nachbarschaftlichen Hilfe, in der durchaus absurden Situation, Nachbarschaft möglichst ohne Kontakt zu leben. Es scheint so, als würde jetzt in der Krise der Kern des sonst eher leisen Teils der Gesellschaft sichtbar, die „schweigende Mehrheit" dem sonst laut tönenden Teil zeigen, was Sache ist. Was nicht heißt, dass nicht weiter Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und gezielte Falschmeldungen für Verunsicherung sorgen würden. Gerade deshalb gilt es, das, was an mitmenschlicher Solidarität jetzt trägt, nach Kräften zu unterstützen. Genau die wird noch lange Zeit gebraucht, wenn durch die derzeit drastischen Maßnahmen die weitere Ausbreitung des Corona-Virus eingedämmt werden sollte und es darum geht, mit den Folgen dieser einmaligen Zäsur umzugehen.