Nun ist sicher, dass die Olympischen Spiele in Tokio im Sommer nicht wie geplant über die Bühne gehen. Viele Athleten bangen um ihren Lebenstraum. Es ist nach den beiden Weltkriegen erst das vierte Mal, dass die Spiele der Neuzeit nicht stattfinden werden.
Noch ein paar Tage trainierten die Athleten, auch wenn sie längst nicht mehr sicher sein konnten, ob sich all die Plackerei überhaupt lohnt. Sie hatten ihren großen Traum noch nicht aufgegeben. Doch niemand konnte ihnen mit Sicherheit sagen, ob die Olympischen Spiele in Tokio tatsächlich stattfinden. Weltweit werden wegen des grassierenden Coronavirus Sportereignisse abgesagt oder verschoben, ohne Rücksicht auf deren Renommee: die Marathonläufe in London und Boston, die French Open im Tennis, mehrere Formel-1-Läufe, die Bundesliga, die Champions League. Selbst die Fußball-EM hat es erwischt, die nun auf 2021 vertagt ist.
Nur einen Tag später betonte das Internationale Olympische Komitee (IOC) zwar, dass man weiterhin keinen Grund sehe, die Spiele in Tokio abzusagen oder zu verschieben. Da bis zu den Spielen noch vier Monate verbleiben, seien zum jetzigen Zeitpunkt keine drastischen Entscheidungen erforderlich, hieß es; man sei zuversichtlich, dass die zahlreichen Maßnahmen, die von vielen Behörden in der ganzen Welt ergriffen würden, dazu beitragen, die Situation einzudämmen.
Doch eine Garantie dafür gab es nicht. Und diese Unsicherheit übertrug sich auf die Sportler. „Motivation und Moral sind bei mir komplett weggebrochen", meint Deutschlands bester Geher Christopher Linke vom SC Potsdam, im vergangenen Jahr WM-Vierter. „Ich bin kein Athlet, der gerne ohne Ziele trainiert. Ich gehe nicht zum Training, weil es mir so besonders viel Spaß macht, sondern weil ich weiß, dass es zu einer Topleistung dazugehört. Jetzt weiß ich nicht mehr, wofür ich trainieren soll." Dem „Sportbuzzer" sagte er: „Aktuell fühlt es sich wie ein kleiner Burn-out an, weil ich keinen Sinn sehe in dem, was ich mache."
Auch die Berliner Sprinterin Lisa-Marie Kwayie von den Neuköllner Sportfreunden beschlich zunehmend ein mulmiges Gefühl. „Es fällt schwer, den Fokus zu bewahren", sagte sie gegenüber der „Berliner Morgenpost". „So als ob am Ende der Geraden keine Ziellinie zu sehen ist, sondern bloß Nebel, und man gar nicht weiß, ob das Ziel überhaupt noch da ist."
„Aktuell fühlt es sich wie ein kleiner Burn-out an"
Bislang sind die Olympischen Sommerspiele seit ihrer Erstauflage 1896 erst dreimal ausgefallen. Die Spiele 1916 in Berlin fielen dem Ersten Weltkrieg zum Opfer – was man durchaus als Ironie der Geschichte bezeichnen darf, denn der damalige IOC-Präsident Pierre de Coubertin hatte eine Austragung in Berlin ursprünglich vor allem auch deshalb favorisiert, weil er glaubte, dies könne im Sinne der Völkerverständigung dazu beitragen, einen drohenden Krieg zu verhindern. 1940 sollten die Sommerspiele eigentlich in Tokio stattfinden, doch als wegen des anhaltenden Krieges mit China die Ressourcen zunehmend knapp wurden, gab Japan das Recht zur Austragung im Juli 1938 offiziell an das IOC zurück. Stattdessen wurde Helsinki als neuer Austragungsort bestimmt. Wegen des Zweiten Weltkriegs konnten die Spiele dort aber letztlich ebenso wenig abgehalten werden wie die geplante Auflage von 1944 in London.
Seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs haben die Sommerspiele dagegen regelmäßig stattgefunden. Wobei es 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles den besonderen Fall gab, dass die Wettkämpfe zwar stattfanden, aber von einer ganzen Reihe von Staaten boykottiert wurden, wovon auch deutsche Athleten aus der Bundesrepublik beziehungsweise aus der DDR betroffen waren. Es war die Hochzeit des Kalten Krieges, der sich längst auch auf der sportlichen Bühne abspielte. Sport war zu jener Zeit die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Auslöser für den Boykott der Spiele in Moskau war der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979, die man aufseiten der UdSSR offiziell mit der Gefahr einer Islamisierung entlang der gemeinsamen Grenze begründete. Der wahre Grund war aber eher der breite Widerstand der afghanischen Bevölkerung für die kommunistische Partei, die sich Anfang 1979 an die Macht geputscht hatte sowie der Wunsch nach mehr Einfluss im Mittleren Osten. Als Reaktion darauf stellte US-Präsident Jimmy Carter den Sowjets ein Ultimatum: Rückzug aus Afghanistan oder US-Boykott der Sommerspiele in Moskau. Beides hätte einen enormen Prestigeverlust bedeutet, sodass die Gegenseite nicht darauf einging. Im April 1980 stimmte das amerikanische Nationale Olympische Komitee (USOC) für den Boykott – gegen den Willen der meisten Athleten und auch erst, nachdem die US-Regierung zuvor die Streichung sämtlicher Mittel und sogar den Passentzug für USOC-Präsident Robert J. Kane angedroht hatte.
Die betroffenen Sportler hielten sich mit öffentlicher Kritik zurück, doch zwischen den Zeilen war ihre Haltung klar herauszuhören. So meinte Arthur Bith Holsteen, der Teamchef der Boxstaffel: „In erster Linie bin ich Amerikaner, und was immer mein Präsident entscheidet, so ist es gut für mich und die Boys. Zweitens würde ich es gern sehen, wenn es nicht zu dem Boykott kommen würde. Aber wenn die Vereinigten Staaten sagen, wir sollen nicht hingehen, dann haben wir diese Entscheidung zu respektieren."
Am Ende blieben 65 Nationen den Spielen in Moskau fern
Nach den USA erklärten auch zahlreiche verbündete Staaten den Boykott, allerdings weit weniger als von den Amerikanern erhofft. Am Ende blieben 65 Nationen den Spielen in Moskau fern – aus Europa waren dabei lediglich Albanien, Liechtenstein, Monaco, Norwegen und die Bundesrepublik dem amerikanischen Beispiel gefolgt. In Deutschland fiel die Entscheidung der NOK-Versammlung am 15. Mai 1980 – nur zwei Monate vor dem Beginn der Spiele – mit 53 Ja- und 40 Nein-Stimmen allerdings äußerst knapp aus. 400-Meter-Hürdenläufer Harald Schmid war damals dabei, als der Boykott beschlossen wurde. Im „Deutschlandfunk" sagte er 2005: „Und als dann das Abstimmungsergebnis kam, da kam eigentlich der richtig schlimme Moment für mich, als sich dann die Spitzen der Sportverbände, DSB, NOK und auch Sporthilfe, richtig in den Armen lagen. Und es war für mich eigentlich unerklärlich, das sollten ja eigentlich die Vertreter meiner Interessen als Sportler sein, und die haben sich gefreut, dass wir boykottieren. Das war für mich eigentlich das Schwerste daran."
Harald Schmid galt damals als aussichtsreicher Medaillenkandidat und war von einem Tag auf den anderen aller Chancen beraubt. So wie ihm ging es vielen Athleten: Ruderer Peter-Michael Kolbe, Hochspringer Dietmar Mögenburg, Mittelstreckler Thomas Wessinghage oder Zehnkämpfer Guido Kratschmer, um nur einige zu nennen. Vor allem Kratschmer war 1980 in der Form seines Lebens – wenige Wochen nach dem Boykottbeschluss stellte er in Bernhausen mit 8.649 Punkten einen neuen Weltrekord auf. „Das war schon eine große Genugtuung für mich, dass die ganze Plackerei nicht umsonst gewesen war", verriet er später der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", „aber natürlich nie und nimmer ein Ersatz für die Goldmedaille." Auch 400-Meter-Läufer Hartmut Weber war mit der deutschen Staffel in Bestform und mit seinen Kollegen kurz zuvor die schnellste Zeit des Jahres gelaufen, doch eine Medaille blieb auch ihnen verwehrt. Als Entschädigung bekamen die deutschen Athleten Reisen nach Kanada, Tokio und China und zu Weihnachten neben einer Urkunde, die sie als Teil der Olympiamannschaft auszeichnete, das Olympia-Buch 1980. Es wirkte wie Hohn. Der Frust saß tief. „Wir Sportler wurden ja gar nicht gefragt", so Hartmut Weber vor einigen Jahren in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", „und bewirkt hat die Aktion am Ende gar nichts." Tatsächlich blieb die politische Wirkung des Boykotts gering. Stattdessen kam es vier Jahr später in Los Angeles zur erwarteten Retourkutsche des Ostblocks, als 14 sozialistische Staaten – darunter die DDR – die Teilnahme verweigerten. So wurden auch auf ostdeutscher Seite etliche Athleten ihrer Olympiachance beraubt. Die aktuelle Generation hoffte nun, dass man das Coronavirus so schnell in den Griff bekommt, dass ihr Traum nächstes Jahr wahr wird.