Wien hat drastisch auf die Covid-19-Pandemie reagiert: Ganz Tirol steht unter Quarantäne, in der Hauptstadt gelten strenge Ausgangssperren. Auch in Österreich spielt sich das Leben mittlerweile in den eigenen vier Wänden ab. Was kommt danach? Zwei Freundinnen aus Wien erzählen, wie sie die ersten Wochen der Corona-Pandemie und der Ausgangssperren erleben.
Ich heiße Fam Paar, bin 37 Jahre alt, arbeite in der Gastronomie und lebe seit 2014 in Wien. Mit meinem Freund Axel teile ich mir eine Altbauwohnung im zweiten Bezirk. Freitag, der 13., war mein vorerst letzter Arbeitstag.
Seit knapp zwei Wochen habe ich sehr viel Zeit. Schon Tage vor der Gewissheit, dass jetzt auch offiziell Maßnahmen ergriffen werden, prangten etliche Artikel zum Thema Corona in der ohnehin schon überfüllten Taskleiste meines Browsers. Aber es wurde Samstag, bis ich mich damit auseinandersetzte, da hatten wir bereits entschieden, die Bar am Abend nicht mehr aufzusperren.
Der erste Artikel verunsicherte mich, nach Interview Nummer drei hatte ich einen Kloß im Hals, nach vier Stunden Recherche war ich schließlich bei Panik angelangt. Nicht vor dem Virus, sondern davor, dass wir alle, als Menschheit, gerade eine Situation völlig falsch einschätzen, sie absolut unterschätzen. Ich war wütend, mich nicht schon eher informiert zu haben.
„Es war halt noch so weit weg", und dann war es plötzlich da. Die ersten 48 Stunden zu Hause verbrachte ich mit lesen, telefonieren, Videos und Interviews schauen und grübeln. Zwischendrin führte ich düstere Gespräche mit Axel. Ich konnte es kaum fassen, dass das wirklich passiert. Aber was genau ist es eigentlich, was jetzt geschieht?
Die bisherigen Schritte zur Eindämmung des Coronavirus waren schlichtweg an mir vorbeigegangen, ich hatte ein paar Dinge aufgeschnappt, mehr aber auch nicht. Mit welcher Geschwindigkeit die Regierung die Maßnahmen verschärfte, alarmierte mich. So hieß es freitags, ab Montag würden Gastronomien nur von 8 bis 15 Uhr öffnen dürfen, am Sonntag wurde dann der komplette Shutdown von Gastronomie, Kultur und öffentlichem Leben verkündet.
Ich heiße Isabel, bin 33 Jahre alt und lebe in Wien, wo ich eine Ausbildung zur Psychotherapeutin mache und als persönliche Assistentin eines Rollstuhlfahrers arbeite. Diese Woche hätte die Abschlussprüfung meines Philosophiestudiums stattfinden sollen.
„Die Geschwindigkeit der Maßnahmen alarmierte mich"
Es ist Freitag, der 13. Seit zwei Tagen hat die Uni zu, meine Prüfung ist vorerst mal auf Eis. Sophie kommt zu mir zum Kaffeetrinken. Wir reden über alles Mögliche, während wir ziemlich viele Nachrichten erhalten. Die Tragweite der Situation breitet sich aus, aber irgendwie bleibt es abstrakt. Ich hätte es längst kapieren können. In Italien ist schon die Hölle los zu diesem Zeitpunkt, Krisengebiet, das ganze Land Sperrzone.
Am Wochenende ist in vielen Lokalen „letzter Abend", eher noch Partystimmung. Ich schaue mir Videos auf Facebook an, von italienischen Menschen die an den Fenstern Musik machen, von zurückgekehrten Delfinen, aufgeklarter Luft, und feiere das Durchatmen des Planeten. Ich zeige die Videos René, er sagt: „Die Wirtschaft wird zusammenkrachen."
Am Sonntag geht es dann so richtig los. Tausend Nachrichten, Telefonate, dann sagen sie es offiziell: Ausgangsbeschränkungen, alles zu. Nur noch zum Spazierengehen raus. Keiner weiß, wie lange das so gehen soll. Ich spüre, dass das alles eine größere Dimension hat, viel größer, als mir bis dahin klar war. Ich telefoniere mit meinen Eltern.
Dann kommt der Informations-„Binge", wir alle lesen, schauen, hören Nachrichten, Artikel über Viren, die Spanische Grippe, was auch immer. Um Begriffe zu finden, die das alles irgendwie fassbarer machen. Die Todesfälle in Italien überholen die von China. Es sind apokalyptische Bilder. Das ethische und moralische Gewicht der Situation steigt.
Die ersten Tage krochen dahin, ich konnte gar nicht aufhören, mich immer breit gefächerter zu informieren. Angst wich einem neu entfachten Kampfgeist. Positive Artikel erreichten mich, die einen optimistischeren Blick auf die Situation erlaubten. Sind wir nicht recht früh dran mit unseren Maßnahmen? Aber kann man das überhaupt schon wissen? Mein unbezwingbarer Optimismus übernahm die Kontrolle, und ich engagierte mich in Facebook-Gruppen zum Thema Corona und Gastronomie, sammelte Infos zu Kündigungen und Kurzarbeit und war froh, eine Aufgabe zu haben.
Frühjahrsputz und Möbel umstellen sorgten daheim für lockerere Stimmung. Ich nähte Tischdecken und nahm mich endlich dem runden Häkelteppich an. Ich distanzierte mich physisch, tele- oder videofonierte aber ständig mit Freunden. Diskutierte und tauschte Informationen aus. Dazwischen las ich. Alte Freundschaften lebten wieder auf, und Axel und ich rückten näher zusammen. Kann alles doch postiv enden?
Mittlerweile sind alle Flughäfen geschlossen. Am Dienstag noch wurde ein Freund über Istanbul und München aus Vietnam heimgeholt. Er wunderte sich über fehlende Kontrollen. Ich mich irgendwie auch.
Die Wiener Polizei fährt durch die Stadt und bestraft nicht regelkonformes Verhalten. Personen mit Migrationshintergrund werden besonders gerne kontrolliert. Täglich um 18 Uhr wird „I am from Austria" von den Polizeiautos per Lautsprecher gespielt. Kurz tritt als Lichtgestalt auf, erstrahlt mehrmals täglich auf den Bildschirmen. Jeder sagt, wir können echt froh sein jetzt.
In Lesbos, wo 22.000 geflüchtete Menschen festsitzen, denen menschenwürdige Lebensbedingungen verweigert werden, bricht ein Feuer aus. Ein sechsjähriges Kind stirbt. Einige Länder überlegen, 1.500 Kinder von dort wegzuholen. Österreich ist nicht dabei. Wir wissen, was passiert, wenn das Virus Moria erreicht. Es ist eine offizielle politische Entscheidung, dass hier Zigtausenden Menschen präventive und schützende Maßnahmen verwehrt werden, die sonst in ganz Europa umgesetzt werden. Das ist Rassismus. Die tödliche Version.
„Was ist mit Grundrechten?"
Die Nachrichtendichte über Corona ist so hoch, dass wenig anderes durchdringen kann, doch das Feuer in Moria ruft mir schmerzvoll in Erinnerung, welch humanitäre Krise sich an unseren EU-Außengrenzen abspielt.
Moment! Was ist eigentlich mit der EU? Haben nicht gerade alle Länder ihre Grenzen dichtgemacht, geht das überhaupt? Eine unglaubliche Kaskade an Fragen prasselt auf mich nieder. Was ist mit unseren Grundrechten? Kann eine Demokratie solche Einschränkungen aushalten? Werden die Menschen jetzt langsam auf einen totalitären Staat vorbereitet? Die Fragen beginnen, sich zu überschlagen. Wohin gehen Obdachlose eigentlich bei einer Ausgangsbeschränkung? Wo waschen sie sich ihre Hände?
Ich lese nun immer mehr von Wissenschaftlern, die solche oder ähnliche Szenarien schon länger vorausgesehen haben. Wieso sind wir so schlecht vorbereitet? Dafür, dass wir so schlecht vorbereitet sind, reagieren wir aber doch ganz gut, oder? Wirtschaftliche Hilfen werden zugesagt, und ich bin fasziniert, dass so vieles auf einmal so schnell geht. Das erleichtert natürlich. Aber fließen diese Hilfen jetzt auch zu denen, die sie am nötigsten brauchen?
Die Maßnahmen wurden bis Ostermontag verlängert. Was ist mit denen, die alleine wohnen? Wie lange geht Isolation gut? Wenige Tage später dämpft Kanzler Kurz bereits wieder die Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr zum Normalzustand. Normalzustand? Wie wird der aussehen?
Draußen ist es kühler geworden. Die Vögel singen unglaublich laut. In Italien sind inzwischen mehr als 5.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Vor ein paar Tagen gab es Videos aus Bergamo, wo Särge vom Militär abgeholt wurden, weil das Krematorium überlastet war. Kriegsmetaphorik durchzieht die politischen Ansprachen. Die österreichische Regierung nimmt 38 Milliarden Euro in die Hand, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Ich habe nicht viel Ahnung, aber bei dieser Zahl horche ich auf.
„Wie in einem dystopischen Film"
Wir beginnen, kleine Strategien zu entwickeln oder zumindest eine Art Rhythmus in den Tag zu bringen. In den Supermärkten werden immer mehr Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Im „Hofer" fühle ich mich wie am Set eines dystopischen Films. Ich bin froh über meine Wohnung. Für viele ist das jetzt nicht so „entschleunigend". Frauenhäuser und Gewaltschutzzentren warnen vor vermehrten Eskalationen, wenn es zu Hause zu eng wird.
Mittlerweile stellen sich Routinen ein bei denjenigen, die jetzt schon eine Weile daheim sind. Andere gehen oder fahren durch leere Straßen zur Arbeit. Es hat sich jetzt schon etwas verändert. Was genau, kann ich noch nicht sagen. Ich merke, wie wichtig es mir ist, mir all diese Fragen zu stellen. Mich all diesen Fragen zu stellen. Wir müssen diskutieren, uns mit uns und unserer Welt auseinandersetzen. Dann können wir vielleicht auch was daraus lernen.
Das alles ist wie eine Lupe, die die Dinge vergrößert, und wahrscheinlich auch beschleunigt. Es stellen sich Tausende Fragen, Utopien stehen Warnungen und Alarmglocken, eingeschränkten Freiheitsrechten, Überwachung, staatlicher Kontrolle gegenüber. Wir sind mitten in diesem Strudel. Wir versuchen, wachsam zu sein und trotzdem Chancen aufzuspüren. Wir haben Zeit um nachzudenken. Wir denken nach. Nebenbei räumen wir unsere Wohnung auf.