Der Premiere-Grand-Prix in Vietnam, der am 5. April in Hanoi stattfinden sollte, ist abgesagt. Sieben weitere Rennen sind ebenfalls dem Coronavirus zum Opfer gefallen. Die Formel 1 startet frühestens am 14. Juni in Montreal in die Saison.
Der Frühling hat gerade den Winter verdrängt. Und die Formel 1 ist mitten in dieser meteorologischen Blütezeit schon im Sommerurlaub. Verkehrte Welt? Notgedrungen! „Verordnet" hat den Teams diese Zwangspause die Seuche Corona. Das Virus ist auf der Überholspur und hat den rasenden Zirkus ausgebremst. Die Dynamik der Krise hat auch die Formel 1 voll erwischt und hat sie fest im Würgegriff. Daher erfordern außergewöhnliche Umstände drastische Maßnahmen. Dazu zählt die vorgezogene Verlegung der F1-Sommerpause von Juli/August in den März/April. Die Absageflut der ersten vier Überseeläufe in Australien (15. März), Bahrain (22. März), Vietnam (5. April) und China (19. April) sowie der drei Europarennen in den Niederlanden (3. Mai), Spanien (10. Mai) und Monaco (24. Mai) als auch Baku/Aserbaidschan in Vorderasien (7. Juni) haben die Verantwortlichen veranlasst, die zweiwöchigen Fabrikschließungen im August vorzuziehen und auf drei Wochen auszudehnen. Mit diesem Kniff sollen ausgefallene oder verschobene Rennen im Sommer nachgeholt werden.
Der vorgezogenen Sommer-Zwangspause haben alle zehn F1-Teams zugestimmt. Drei Wochen lang müssen sie die eiligen heiligen Hallen zusperren. „Alle WM-Teilnehmer müssen in den Monaten März und/oder April eine Sperrzeit von 21 aufeinanderfolgenden Tagen einhalten", heißt es in einer offiziellen Mitteilung. Den Urlaub in den Frühling zu verlegen kommt aber nicht bei allen Betroffenen gut an, nicht alle Mitarbeiter der Rennställe sind von dem Plan der F1-Strategiegruppe und F1-Kommission begeistert. Viele Angestellte müssen ihren gebuchten Juli-/August-Urlaub stornieren und kurzfristig umplanen. Ferrari war das erste Team, das nach seiner Australien-Rückkehr seine Mitarbeiter in Quarantäne schickte und den Anfang der Zwangserholung machte. Am 18. März gingen in der Fabrik in Maranello die Lichter aus, das Team von Sebastian Vettel und Charles Leclerc hat bis einschließlich 8. April die Tore geschlossen. In Hinwil in der Schweiz lässt Alfa Romeo (ehemals Sauber) vom 23. März bis zum 12. April die Arbeit ruhen. Die Mitarbeiter von Red Bull in Milton Keynes haben sich vom 27. März bis zum 16. April in den Urlaub verabschiedet. Doch wann drehen sich die Räder wieder? Wann beginnt die Formel-1-Saison 2020?
Nach aktuellem Stand ist der 14. Juni als Saisonauftakt aber längst noch nicht in Stein gemeißelt. Pessimisten gehen von einem noch späteren Zeitpunkt aus. Mit 22 Rennen sollte 2020 die längste Saison in der Grand-Prix-Geschichte werden. Die ersten acht Rennen sind aber schon abgesagt. Oder werden zum Teil auf unbestimmte Zeit verschoben. Australien und Monaco gehören definitiv nicht dazu. Beide Strecken sind keine permanenten Rennstrecken. Sie müssen auf- und abgebaut werden. Im Fürstentum dauern die Arbeiten für den 3,337 Kilometer langen Stadtkurs bis zu zwei Monate. Das Jahreshighlight, der Klassiker an der Côte d’Azur, springt erstmals seit 1954 über die Klinge.
„Sperrzeit von 21 aufeinanderfolgenden Tagen"
Gute Chancen, verschoben zu werden und somit im Kalender 2020 zu bleiben, haben die Niederlande, Bahrain, Neuling Vietnam und Baku in Vorderasien. „Jungbulle" und Red-Bull-Star Max Verstappen hat in den Niederlanden einen Hype ausgelöst. 105.000 Karten sind für das erste Rennen nach 35 Jahren Pause in Zandvoort vor „vollem Haus" verkauft. Dreimal so viele Tickets hätten es locker sein können. Bahrain zahlt ein ordentliches Antrittsgeld von mehr als 30 Millionen Dollar und bietet kaum organisatorische Hürden. Die GP-Premiere auf dem Straßenkurs in Hanoi zu verschieben dürfte schwierig sein, ist aber wegen der Erschließung neuer Märkte wichtig. Ende Februar wurde der Bau der Rennstrecke in der vietnamesischen Hauptstadt abgeschlossen. Der Aachener Bauingenieur und Streckenbauer Hermann Tilke, angesprochen vergangenes Jahr auf sein neuestes „Werk" in Hanoi: „Knapp zwei Drittel der 5,607 Kilometer langen Strecke mit ihren 23 Kurven musste neu gebaut werden. Auf dem restlichen Teil geht es über öffentliche Straßen. Die mussten aber auch alle komplett neu asphaltiert werden." Wenn die Formel 1 in Hanoi antritt, dann ist Vietnam das 33. Land, in dem der rasende Zirkus Station macht und der Hanoi Street Circuit die 14. neue Strecke, um die der GP-Zirkus in den letzten 20 Jahren expandiert hat. Gefahren wird im Westen der Stadt, in der Nähe des My-Dinh-Nationalstadions. Das südostasiatische Land erhofft sich vom Rennen einen enormen Werbeeffekt – und eine lohnende Investition für das Tourismus-Marketing. Das Rennen in Aserbaidschans Hauptstadt Baku ist offiziell nur verschoben, von einer Absage ist (noch) keine Rede. Aber: Unter den aktuellen Ausgangsbeschränkungen kann die temporäre Infrastruktur für den Straßenkurs in der City nicht aufgebaut werden.
Bahrain zahlt 30 Millionen Dollar Antrittsgeld
Für verschobene Rennen gestalten sich Optionen für einen Ersatztermin schwierig. Und so brüten die Macher über dem zu überarbeitenden Kalender. Eine Saison mit nur 14 WM-Läufen wäre völlig unüblich, selbst 1983 waren es immerhin noch 15 Rennen. Mit sieben WM-Läufen fand 1955 die bisher kürzeste Saison statt: Elf Rennen waren geplant, vier Grands Prix wurden wegen des Le Mans-Unglücks mit 83 Toten kurzfristig abgesagt. F1-Sportdirektor Ross Brawn geht von 18 bis 20 Rennen aus. „Wir wollen von den verlorenen Rennen so viele wie möglich zurückholen", so das ehemalige Superhirn, Denker und Lenker von Michael Schumacher zu Ferrari-Zeiten. Verständlich. Keine Rennen, kein Geld. Antrittszahlungen, TV-Gelder, Sponsorenprämien – all diese Einnahmen brechen bei abgesagten Rennen weg. Die lokalen Veranstalter überweisen zwischen 30 und 50 Millionen Dollar Antrittsgeld. „Die Teams, vor allem aber die kleinen, überleben mit Geldern, die wir bei den Rennen einnehmen. Jedes verlorene Rennen wirkt sich stark aus", so der bullige Brite. Acht Rennen müssen in jedem Fall gefahren werden. So sieht es das F1-Reglement vor. Nur dann zählt die Saison als Weltmeisterschaft.
Bereits jetzt ist klar, dass die Formel 1 in diesem Jahr den spätesten Saisonauftakt in ihrer Geschichte erleben wird. Diesen Rekord hielt bisher die Saison 1951, als auf dem Bremgartenring in der Schweiz der Startschuss erst am 27. Mai fiel. Diese Marke wird 2020 auf jeden Fall überboten. Doch weil das Coronavirus längst nicht mehr nur in Asien tobt, sondern sich weltweit ausgebreitet hat, befürchten einige Experten, dass der komplette F1-Zirkus nicht mehr um den Globus reisen darf.
„Jedes verlorene Rennen wirkt sich stark aus"
Blicken wir zurück im Schnelldurchlauf, wie die Pandemie den F1-Kalender völlig durcheinandergewirbelt hat. Bis heute weiß noch niemand, wie er sich noch gestalten wird. Ausgangspunkt war die skurrile Absage des Auftaktrennens in Melbourne/Australien. Kritik für diese eigenartige, absonderliche, kapriziöse Absage hagelte es für die F1-Verantwortlichen von allen Seiten. Alle zehn Teams hatten ihre Garagen im Fahrerlager bezogen, Autos und Fahrer waren für das erste freie Training am Freitagmorgen startklar. McLaren hatte sich offiziell vom Saisonauftakt zurückgezogen. Ein Teammitglied hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und befand sich in Quarantäne. Im Vorfeld waren sich die Team-Bosse einig: Fährt einer nicht, fährt keiner. Alles andere wäre Wettbewerbsverzerrung. Red Bull, Alpha Tauri (ehemals Toro Rosso) und das Haas-Team wären gerne gestartet. Vier Haas-Mitglieder wurden aufgrund des Auftretens von Corona-Symptomen unter Quarantäne gestellt. Mercedes-Pilot Lewis Hamilton bezog klare Position. „Ich bin sehr, sehr überrascht, dass wir hier ein Rennen fahren und der Rest der Welt alle Veranstaltungen absagt. Das fühlt sich schon komisch an", sagte der Weltmeister und bezeichnete die Nicht-Absage als „schockierend". Später kritisierte er in den sozialen Netzwerken „unverantwortliche" Mitmenschen und deren Uneinsichtigkeit bei vorgegebenen Verhaltensweisen. Bis es zur unvermeidlichen Absage des Saisonauftakts kam, war es eine unfassbare Posse, eine Farce. Tausende von Fans versammelten sich vor den Toren zur Strecke, um das Training zu verfolgen. Sie standen auf engstem Raum – also passierte genau das, was eigentlich verhindert werden sollte. Verblüffend: Zu diesem Zeitpunkt saßen Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen schon im Flieger nach Europa. Um 10 Uhr Ortszeit, zwei Stunden vor dem ersten Training, 54 Stunden vor dem Rennstart, kam (notgedrungen) die offizielle Absage: Die australische Gesundheitsbehörde hatte ein Machtwort gesprochen!