Das Wochenende, an dem das Reisen sinnlos wurde
Es ist – und diese Erkenntnis drängt sich uns mit schleichendem Schrecken ins Bewusstsein – das Wochenende der letzten Reisefreiheit. Wir kommen gerade noch so weg. Nicht weit, nur in ein anderes EU-Land. Litauen, um genau zu sein. Der Empfang in Vilnius trägt schon die sichtbaren Zeichen der Krise. Männchen in Ganzkörperanzügen und mit Atemmasken warten bereits am Gate. Nicht, um an uns die Temperatur zu messen. Auch nicht, um uns zur Gesundheitsuntersuchung zu schicken mit möglichen Quarantänemaßnahmen. Es geht – erstaunlicherweise – nur um die Aufnahme einfacher Daten.
Danach geht alles seinen gewöhnlichen Gang. Rein ins Taxi und ab ins Hotel. Dabei ist so rein gar nichts mehr gewöhnlich. Die Welt ist gerade dabei, sich radikal zu verändern. Die Prinzipien Nachbarschaft und Gastfreundschaft treten den Rückzug an. Die Staaten machen dicht, schotten sich ab, lassen kaum noch jemanden rein. Halbstündlich kommen neue Städte und Länder hinzu. Auch Litauen folgt ein paar Tage später. Eine Vorausbuchung um die nächste platzt: Moskau, Singapur, Vietnam – im Nu kann man alle von langer Hand geplanten Reiseziele in die Tonne treten. Und 24 Stunden später platzt auch das fernste Ziel: Neuseeland.
Faktisch verabschiedet sich die Welt aus der Welt. Das Coronavirus hat alles fest im Griff. Im Würgegriff. Das gilt inzwischen für alle Kontinente, ausnahmslos. Selbst abgelegene Regionen wie Grönland sind nicht gefeit vor der unsichtbaren Gefahr. Das Szenario wird immer bizarrer. Und ein Stück weit grotesk. Weil sich namhafte Unternehmen der Reise- und Mobilitätsbranche mit eilfertigen Aktionen gegen den drohenden Niedergang wenden.
Airlines bemühen sich in einem Akt der Verzweiflung, ihren Kunden Umbuchungen auf eine der letzten Maschinen anzubieten, in alternative Länder, die noch offen sind für die Einreise – wenn auch nur noch wenige Stunden. Aber das weiß zu dieser Stunde noch keiner. Eine Autovermietung wiederum wirbt mit „Angebots-Knallern" und einem „Wochenende in der Natur fernab von Menschenmengen". Und große Hotelprogramme kämpfen gegen berechtigte Zweifel an, garantieren „Hygiene" und einen „gesunden Aufenthalt" in allen Häusern. Fast zeitgleich wird der Lufthansa-Kapitän auf unserem Rückflug nach Frankfurt verfügen: Kein Service an Bord! Zu risky! Die Gefahr des Infekts fliegt mit. Auch weil Dinge wie Desinfektionsmittel an Bord gänzlich fehlen.
Wie geht es weiter in Zeiten der weltweiten Reisewarnung? Deutschland ist, die bestätigten Covid-19-Fallzahlen der Johns Hopkins University belegen das Tag für Tag, ein Risikoland und damit kein Global Player mehr. Um davon auszugehen, dass dieser Zustand nur Wochen anhält und wir dann wieder ungehindert und mit dem üblichen großen Vorrat an Freiheit um den Globus jetten, braucht es eine Riesenportion Optimismus.
Die hat nicht jeder. Verständlicherweise. Die zigfach gespentisch geparkten Jets auf dem Rollfeld des Drehkreuz Frankfurt potenzieren die Skepsis. Besonnener handelt, wer davon ausgeht, dass die bleierne Zeit, der Horror vacui, uns noch Monate in Bann hält.
Bis dahin finden die Entdeckungsreisen im überschaubaren Raum unserer Wohnungen statt. Bücher helfen dabei, beflügeln die Fantasie, begrenzen den Schmerz, das Gefühl, eingezwängt zu sein. Ja, Bücher statt Klopapier! Das unterstützt auch die Buchhändler um die Ecke, die wie andere im Einzelhandel um ihre Existenz bangen. Der Stillstand als Chance des Innehaltens, als geistige Herausforderung. Es gibt ein Füllhorn toller Reiselektüre, alter wie neuer. Tuckeys „Bericht von einer Reise nach Neu-Süd-Wallis" zum Beispiel. Newbys „Spaziergang im Hindukusch". Oder Nadolnys fast schon programmatische „Die Entdeckung der Langsamkeit".
Daneben bleibt viel Zeit, um sich zu sortieren, neu auszurichten. Umbuchungen abgesagter Flüge müssen vorgenommen werden. Eventuell auch Stornos oder Rückzahlforderungen. Die meisten Airlines zeigen sich kulant. Aber nicht alle. Der Grund ist klar. Es geht ums Überleben. Und das gilt im Prinzip für uns alle.