„Echtes Essen" statt industriell produziertem – dafür plädiert der Ernährungskritiker Dr. Hans-Ulrich Grimm. Vor allem Zucker hält er für das gefährlichste Lebensmittel, das die Menschheit kennt.
Herr Grimm, Ihr Buch trägt den Titel „Food War". Herrscht wirklich ein Lebensmittel-Krieg?
Das ist eine Vokabel, die habe ich aus der „New York Times" entnommen. Sie stammt von einem südamerikanischen Professor namens Carlos A. Monteiro, und der hat das aufgrund seiner Beobachtungen in Brasilien so formuliert. Ich denke schon, dass man die Situation so beschreiben kann. Dass es zwei Ernährungssysteme gibt, das traditionelle und das industrielle System. Mächtiger ist natürlich das industrielle, das versucht, mit aller Macht seine Position zu sichern, das Umfeld entsprechend zu organisieren und mittels Lobbyismus Regulation und Gesetzgebung zu beeinflussen.
Wer sollte denn in Deutschland bestimmen, was im Essen drin ist?
Eigentlich sollte es in der Demokratie der Souverän sein, der bestimmt, was im Essen enthalten ist, also das „Volk", von dem ja die Macht ausgeht. Aber Wunsch und Wirklichkeit klaffen da eben auseinander. Faktisch sieht es so aus, dass natürlich die Konzerne mitbestimmen. Ich war mehrfach bei Sitzungen vom Codex Alimentarius, den man als Weltregierung in Sachen Lebensmittel bezeichnet. Das ist die zuständige Instanz der Vereinten Nationen, die weltweit für die Regulierung verantwortlich ist. Die gibt die Standards vor für Bio-Nahrung, für Lebensmittelkennzeichnung, für Zusatzstoffe – für praktisch alles, was Essen weltweit anbelangt.
Hat da nicht das Bundeslandwirtschaftsministerium, respektive Frau Klöckner, ein Wort mitzureden?
Die Besetzung in den Ministerien wechselt regelmäßig, aber die Verhältnisse bleiben gleich, unabhängig von der farblichen Ausrichtung der Regierung. Und sogar von politischen Systemen: In China kooperieren die internationalen Lobbyeinrichtungen genauso gut mit der Politik wie bei uns oder in Amerika. Wenn es um Lebensmittel geht, hat die Demokratie Pause.
Gibt es Lebensmittel, die man als besonders schädlich beurteilen kann?
Nach dem Urteil von Professor Monteiro sind das die sogenannten ultraverarbeiteten Nahrungsmittel. Dazu gehören Produkte wie Coca Cola, Babygläschen von Firmen wie Hipp oder Alete, Fertigprodukte aller Art. Natürlich ist es immer eine Frage der Dosis. Und in Deutschland zählt die Hälfte der verzehrten Nahrungsmittel zu dieser Problemgruppe. Sie müssen vor allem billig sein – und lange halten. Daher dürfen sie keinerlei Mikroben enthalten, müssen sozusagen klinisch rein sein, steril, worauf Babynahrungsproduzenten bisher sehr stolz sind – wobei gerade das zum Problem wird fürs Immunsystem. Hinzu kommt natürlich der Zucker, vor allem in Softdrinks: Sie sind laut einer Havard-Studie verantwortlich für 180.000 Todesfälle pro Jahr.
Warum ist Zucker so gefährlich?
Er ist tatsächlich das gefährlichste Lebensmittel, das die Menschheit kennt. Das es in der Natur übrigens gar nicht gibt. Es gibt keinen Zuckerbaum, kein Zuckerbergwerk, den Zucker muss man industriell erst mal herstellen. Der meiste Zucker aber wird nicht direkt verzehrt. Über 83 Prozent steckt in Produkten, wie der Hühnersuppe von Knorr, bei der kein Mensch erwarten würde, dass da Zucker drin ist. Oder in Ciabatta-Brot von Rewe. Ich hatte meinen Einkaufswagen mal vollgeladen nur mit Produkten, bei denen auf der Zutatenliste Zucker draufstand. Da war auch Schinken dabei, den kein Mensch zum Kindergeburtstag mitbringen und sagen würde, ich habe euch was Süßes mitgebracht. Der Zucker lauert an Stellen, wo ihn kein Mensch vermutet, und das liegt auch an dieser industrialisierten Produktion. Der meiste Zucker kommt über diese Produkte ins Spiel. Das ist eine völlig neuartige Nahrungsproduktion mit neuartigen Produkten, auf die der Mensch in der Evolution nicht adaptiert wurde. Und deshalb sind sie ein Problem.
Viele kaufen halt das billigste, weil sie nicht mehr Geld haben. Liegt es also an den Verbrauchern?
Der Verbraucher ist ja ganz vernünftig. Wenn er wenig Geld hat, nimmt er das, was am billigsten ist. Und die Sachen sind ja eben deswegen billig, weil ihnen der Nährwert entzogen wird. Das beste Beispiel: das Erdbeeraroma aus Sägespänen. Wenn ich einen Joghurt kaufe, in dem der Nährwert nicht aus den Erdbeeren kommt, sondern aus einer Chemikalie, dann fehlt natürlich alles, was in Erdbeeren an Nährstoffen drin ist. Sie müssen dann mehr von diesem Produkt essen. In einer Erdbeere sind bis zu achtmal mehr Nährstoffe drin als in dem Fabrikjoghurt. Wenn sie die Nährstoffe aus den Erdbeeren brauchen, dann müssen sie von dem billigen Industriejoghurt achtmal so viel essen, damit sie die Ration kriegen, nach der ihr Körper verlangt.
Dann nehmen sie natürlich auch achtmal so viel an Menge zu. Industrielle Aromen sind deshalb eine der Hauptursachen weltweit für Übergewicht. Dadurch wird das Essen billig, weil es einfach minderwertig ist. Das wird zugleich aber ziemlich teuer: Denn auf der anderen Seite geben die Leute unheimlich viel Geld für ihre Krankheiten aus, in Deutschland doppelt so viel wie für das Essen. 180 Euro sind es pro Monat für das Essen, aber rund 360 Euro für die Krankheiten. Wenn man das hochrechnet auf das Jahr, dann können sie davon in Urlaub gehen – oder besseres Essen kaufen.
Sollte man dann das billige Essen nicht verbieten?
Es geht nicht darum, dass man den Leuten das billige Essen wegnimmt, sondern dass sie wissen: Sie zahlen gesundheitlich einen hohen Preis. Das ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Gerade in Zeiten der Corona-Krise sehen wir, dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt, auch weil es ohnehin schon so belastet ist durch die großen Zivilisationskrankheiten: Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Alzheimer, die Zuckerkrankheit Diabetes, die zum großen Teil vermeidbar sind, entstanden nur durch die Dominanz dieser industriellen Ernährungssysteme. Es gibt mittlerweile Untersuchungen von Wirtschaftsexperten, die errechnet haben, dass allein der Zucker in Deutschland ein Prozent des Wirtschaftswachstums kostet. Wir sehen das ja gerade an der Corona-Krise, wie eine Krankheit sich auf die globale Wirtschaft auswirkt. Beim Zucker passiert das jedes Jahr und kein Mensch diskutiert darüber. Da wird Arbeitskraft verloren. Das kann auch an einer großen Volkswirtschaft nicht spurlos vorübergehen. Eine kranke Gesellschaft hat keine Zukunft.
Wird der Bio-Boom die Wende bringen?
Ich bin ein großer Anhänger von Bio. Bio-Äpfel, Bio-Milch, Bio-Fleisch. Grundsätzlich gilt, dass die Bio-Nahrung nur natürlich ist bis zum Fabriktor. Wenn die ultragesunden Bio-Kartoffeln zu ultraverarbeitetem Bio-Pulverpüree werden, dann sind die genauso nährstoffreduziert wie die von Pfanni. Oder Baby-Bio-Nahrung. Wenn die Bio-Karotten Teil von Hipp-Karotten werden, dann hat das mit Natur natürlich gar nichts mehr zu tun.
Haben Sie einen Tipp für den Verbraucher?
Wir kaufen echtes Essen und gehen auf den Markt, gehen in den Bio-Laden und kaufen dort frische Sachen. Man hat schon sehr viele Möglichkeiten, sich gesunde Lebensmittel zu besorgen. Das Beste ist, wenn man mit einem Gourmet-Bewusstsein durch die Welt geht und sich geschmacklich nicht in die Irre führen lässt. Ich merke das an meinen Kindern. Die haben einen Kompass. Sobald sie irgendwo schlechtes Essen aufgetischt kriegen, essen sie lieber nichts.