Immer wieder ziehen Krankheitswellen über die Welt. Keine aber ist mit der derzeitigen Corona-Krise vergleichbar. Das macht es für alle Wissenschaftler schwierig, aus der Vergangenheit Schlüsse für heute zu ziehen.
Vierzig Tage lang durften Seeleute ihr Schiff nach dem Einlaufen in den Hafen von Venedig nicht verlassen. Man nannte diese Tage auf Italienisch „quarantena", auf Französisch „quarantaine des jours". Tat sich in diesen Tagen an Bord nichts medizinisch Auffälliges, waren sich die Behörden ziemlich sicher, dass die Neuankömmlinge keine gefährlichen Krankheiten einschleppten. Die Erfindung der Quarantäne um 1400 war eine der bahnbrechenden der Medizin und der Epidemiologie und sie gilt als grundlegende Maßnahme zur Eindämmung von Pandemien. Bis heute. Nach den Zeiten der Pest im 14. Jahrhundert veränderte sich nicht nur die Medizin. sondern auch die technologische Innovation, die Kunst, die schließlich zur Wiedergeburt, der „Renaissance" und einem neuen Zeitalter in Europa führte.
Ein prima Ausblick, falls dies der weltweiten Wirtschaft und Gesellschaft auch nach der Corona-Krise blühen würde. Aber ist dies ein historisch nachprüfbares Naturgesetz, dass auf tiefgreifende Krankheitswellen immer ein strahlend neuer Aufbruch erfolgte?
Nicht notwendigerweise. An von Europäern eingeschleppten Krankheiten starben nach der Entdeckung Amerikas auf dem Kontinent mutmaßlich 15 Millionen Menschen. Alleine die Pocken kosteten fünf bis acht Millionen Menschenleben und rotteten einen Großteil der indigenen Völker aus – weil es an Wissen fehlte, Krankheiten effektiv zu bekämpfen. Wissen, dem Ehrgeiz britischer Ärzte und einem gewissen Robert Koch ist es zu verdanken, dass wir heute so viel über die größte Seuche des 19. Jahrhunderts, die Cholera, wissen und die Krankheit mehr oder weniger im Griff haben. Dennoch sterben nach WHO-Schätzung noch immer jährlich bis zu 143.000 Menschen weltweit an dieser Darminfektion.
Sicher ist, Krankheiten können den Lauf der Geschichte maßgeblich beeinflussen. 1812 ließ Napoleon von seinem Vorhaben ab, Russland zu erobern. Extreme Nachschubwege, kaum noch Pferde und das Fleckfieber, das unter seiner Grande Armée wütete, zwangen ihn zur Umkehr. Ohne Krankheitswellen sähe unsere Welt heute anders aus. Aber können wir lernen, was wir jetzt tun müssen und wie wir uns in Zukunft verhalten, indem wir auf vergangene Krisen und Pandemien zurückblicken? Gibt es erkennbare Muster?
Kein Vergleich in der Geschichte
Der Historiker Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze hält die Legende der „Innovationsförderung" durch Krisen, wie einst nach der Pest, für einen Gemeinplatz, der an der komplexen Realität der Globalisierung völlig vorbeigeht. Oder, vereinfacht gesagt: „Die Discounter sehen unsere Situation anders als der Studentenkneipenbesitzer", so Kunze, der Neuere und Neueste Geschichte in Karlsruhe lehrt, auf FORUM-Anfrage. „Sonst wären der Ruin der italienischen Volkswirtschaft, die Opfer von Covid-19 nichts anderes als der Preis für die schöpferische Erneuerung des Kapitalismus". Aus der großen Pest des Spätmittelalters ließe sich für die globale Corona-Krise wenig lernen, weil drei entscheidende Randbedingungen komplett fehlen, so Kunze: ein moderner Interventionsstaat, ein neuzeitliches Verständnis der Medizin sowie grundlegender biologischer Prozesse, außerdem die Globalität des Geschehens.
Um 1918 wütete jedoch die Spanische Grippe in vielen Teilen der Welt, sie forderte in drei Wellen bis 1920 je nach Schätzung zwischen 20 und 50 Millionen Todesopfer, vor allem junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Schon allein deshalb wird sie gern als vergleichbare historische Pandemie herangezogen. „Allerdings sind wiederum die Randbedingungen kaum vergleichbar", erklärt Historiker Kunze. Am Ende des „Großen Krieges", wie er bis zum Zweiten Weltkrieg hieß, war die Betroffenheit von der Pandemie ein kriegsrelevanter Faktor. Eine spanische Nachrichtenagentur berichtete als erste darüber, daher der Name der Grippewelle. Die kriegführenden Mächten berichteten weder offen darüber noch gingen sie entschieden dagegen vor. „Der katastrophale Verlauf der Spanischen Grippe hat auch damit zu tun. Mögliche Lehre: Die Wahrheit ist immer das erste Opfer jedes Krieges." Jedoch Entwicklungen der 1920er-Jahre politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich aus der Spanischen Grippe ableiten zu wollen, würde die hohe Bedeutung anderer Faktoren wie die nicht akzeptierte Kriegsniederlage im Deutschen Reich, die Modernisierungswelle in der Industrie zu gering veranschlagen, glaubt Kunze.
Selbst die Finanzkrise könne kaum als Vergleich herangezogen werden, sie sei vollkommen menschengemacht. „Nichts daran ist Schicksal", erklärt der Historiker, „die Entwicklung des Investmentbanking auf Kosten des traditionellen Bankengeschäfts bei gleichzeitiger Verweigerung der Industriestaaten, einen politischen Rahmen für die Finanzbeziehungen zu schaffen, hat Helmut Schmidt schon in den 1980er-Jahren als „Zeit"-Herausgeber und -autor kritisiert. Die Lehre, die wir daraus ziehen können, ist allerdings: Privatisierung der Gewinne und Vergemeinschaftung der Verluste funktioniert nicht immer."
Mit anderen Worten: Im historischen Rückspiegel sehen wir nichts, was vergleichbar wäre und aus dem sich belastbare Schlüsse für jetzt oder morgen ziehen lassen können. Das liegt mitunter auch daran, dass unser gesellschaftliches Gedächtnis solcherlei Pandemien einfach gelöscht hat. Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeigeschichte München-Berlin sieht zwar die Spanische Grippe als „Menetekel der Pandemien im 20. Jahrhundert", später kamen die Asiatische Grippe 1957 (ein bis zwei Millionen Tote) und die Hongkong-Grippe 1968 bis 1970 (etwa eine Million Tote) hinzu. Alle drei Epidemien und Pandemien sind heute jedoch, trotz ihrer recht hohen Opferzahlen, mehr oder weniger vergessen. Gesellschaften bis Mitte des 20. Jahrhunderts seien noch gelassener mit dem drohenden Tod umgegangen als die heutige: Sterben war kein Politikum. Ähnliches wird der Corona-Krise nicht zuteilwerden, glaubt Wirsching, weil vergleichbar umfassende, weltweite Sicherheitsmaßnahmen gegen ein Virus bislang noch nie getroffen wurden.
Entwicklungsökonom Prof. Dr. Tilman Brück ist unter anderem Direktor und Gründer des Instituts für Internationale Sicherheit und Entwicklung (ISDC) und beschäftigt sich mit Gesellschaften, die von Konflikten wie Kriegen oder auch humanitären Katastrophen heimgesucht werden. Für ihn zeigt sich im Rückgriff auf seine Erfahrungen und Studien, zum Beispiel am Deutschen Institut für Wirtschaft oder am Institut für Friedensforschung SIPRI, nun besonders die soziale Ungleichheit: In den USA sind auffällig viele Schwarze und Latinos mit dem Coronavirus infiziert, die Sterblichkeit ist wegen Vorerkrankungen hoch, weil sie trotz „Lockdown" arbeiten, um über die Runden zu kommen – oder bei den Armenspeisungen anstehen müssen. In Deutschland ist die Lage für einkommensschwache Familien oder Alleinerziehende extrem schwierig. „Diese Krise deckt soziale Ungleichgewichte auf und verstärkt sie", so Brück. Ob sich nach der Krise etwas daran ändert, sei unsicher, es sei noch zu früh, dies zu beurteilen. Doch der Ökonom wagt es zu bezweifeln. „Zahlreiche Studien zeigen zwar, dass in Krisenzeiten wie Kriegen die Zusammenarbeit unter den Menschen zunimmt, und das zeigt sich ja auch in dieser Pandemie. Dass dies jedoch nachhaltig ist, belegt die Forschung nicht."
Angebots- und Nachfrageschock
Eines zeige die aktuelle Krise jedoch jetzt schon: Entwickelte Länder stecken die Coronakrise deutlich besser weg als weniger entwickelte. „Demokratien mit Regierungen, die eine hohe Glaubwürdigkeit besitzen, einen effektiven Staat, einen lernfähigen Staat kommen gut durch die Krise", glaubt Brück. Der Unterschied zwischen den westlichen und östlichen Staaten, zum Beispiel Deutschland oder Südkorea, bestehe vor allem im Problembewusstsein: So hat Südkorea bereits 2002/2003 eine große Sars-Pandemie erfolgreich abgewettert und war entsprechend vorbereitet. Die Folge: massive Einbrüche im Konsum und im Tourismus.
Ohne Rückgriff in die Geschichte ist aber jetzt schon sicher: Die Wirtschaft wird in den kommenden Monaten schwerste Schäden zeigen. Vergleiche mit dem Sars-Ausbruch und der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 hält Nuno Fernandes, Professor für Finanzmanagement an der IESE Business School in München jedoch für unzutreffend. Er wendet stattdessen ein neues Modell zur Berechnung wirtschaftlicher Folgeeffekte über Branchen und Länder hinweg an. Danach sieht er in jedem Falle eine globale Rezession als „beinahe unvermeidlich" an. Anders als bei früheren Krisen sehe man sich diesmal einem „kombinierten Angebots- und Nachfrageschock ausgesetzt", hervorgerufen durch eine Vielzahl von Faktoren wie der starken Integration der Weltwirtschaft. Die globale Pandemie komme just zu einer Zeit, da die Anfangszinsen niedrig und ökonomische Mittel, die Krise zu bekämpfen, limitiert seien. Denn schon zur Bekämpfung der Finanz- und Schuldenkrise haben die Zentralbanken in Europa, wie auch die Europäische Zentralbank selbst, massiv in den Markt eingegriffen, um ihn vor Spekulation und Pleiten zu bewahren. Die Folge: Der Köcher ist leer. „Die Zentralbanken haben ihr Pulver in guten Zeiten verschossen. Es gibt fast keinen Raum für geldpolitische Anreize, um den kommenden Risiken zu begegnen", warnt Prof. Nuno Fernandes.
Was bleibt, ist ein Netzwerk zahlloser Möglichkeiten und Faktoren, die uns so noch nie begegnet sind. Details individuellen Verhaltens und politischer wie wirtschaftlicher Entscheidungen waren und werden wichtig. Prof. Kunze: „Die wichtigste Empfehlung des Historikers ist es, immer genau hinzusehen. Nicht monokausale oder ideologische Erklärungen oder Meisterdeutungen zu suchen, Ambivalenz und Unsicherheit zu akzeptieren. Geschichte ist grau, nicht schwarz-weiß."