Das Magenmittel Cytotec wird auch zum Einleiten der Wehen eingesetzt. Dafür ist es nicht zugelassen und steht wegen möglicher Nebenwirkungen in der Kritik. In Deutschland gibt es vermehrt Interventionen in der Geburtsmedizin.
Vor Kurzem bekamen Gynäkologen, Journalisten und das Gesundheitsministerium ungewöhnliche Post. In einem anonymen Brief schilderten sechs Mütter ihre Schicksale. Sie hätten im Krankenhaus teils sehr hohe Dosen eines Medikaments mit dem Wirkstoff Misoprostol erhalten, um die Geburt in Gang zu setzen, heißt es in dem Schreiben. Ihre Kinder wurden mit Behinderungen geboren, eine Frau verblutete. Cytotec heißt das Medikament, um das es geht. Schon vor dem Brief hatten die „Süddeutsche Zeitung" und Report München (BR) über diese Fälle und die Gefahren berichtet. Sie stellten klar: Unter dem Markennamen Cytotec ist der Wirkstoff nur zum Magenschutz zugelassen, Kliniken beziehen es aus dem Ausland. Rund jede zweite Klinik verwendet es aber Off-Label in der Geburtshilfe. Nach der Verabreichug des Medikaments kann es ihren Recherchen zufolge zu Komplikationen bei Mutter und Kind kommen. Auf die Veröffentlichung hin meldeten sich Hunderte Frauen und berichteten von ihren Erfahrungen. Eine von ihnen: „Mir wurde diese Tablette auch ‚verabreicht‘ und mein Sohn ist seit Geburt behindert. Ob zwischen der Behinderung meines Sohnes und dem Medikament eine Verbindung steht – ich weiß es nicht."
Wieso wird ein Medikament, das eigentlich als Magenschutzmittel gedacht ist, überhaupt in der Geburtsmedizin verwendet? Um diese Frage zu beantworten, muss man in der Geschichte zurückgehen: Brasilien, 1986. In einem der katholischsten Länder der Welt wird Cytotec zugelassen. Die Verkaufszahlen des rezeptfreien Magenschutzmittels schossen schnell in die Höhe, Apotheken verkauften bis zu 50.000 Packungen im Monat. Der Wirkstoff Misoprostol gehört zur Gruppe der Prostaglandine. Das sind körpereigene Botenstoffe, die unter anderem die Muskulatur der Gebärmutter zu Kontraktionen anregen – wie bei einer Geburt. Die Folge: Cytotec wurde zu einem Mittel für heimliche Abtreibungen. Vier Millionen soll es schätzungsweise jährlich gegeben haben. Für viele Frauen war das eine deutlich weniger riskante Alternative. Gleichzeitig rief diese Verwendung von Cytotec Abtreibungsgegner in den Vereinigten Staaten und Brasilien auf den Plan. Anfang der 90er wurde dem freien Verkauf ein Ende gesetzt.
Nach heutigem Forschungsstand können Studien belegen, dass Misoprostol geeignet ist, um Wehen auszulösen und eine Geburt zu starten. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) schreibt in ihrer Stellungnahme zu den kritischen Medienberichten: „Es gibt keinen Wirkstoff zur Geburtseinleitung, der ähnlich gut in Studien untersucht wurde." Auch das Forschungsnetzwerk Cochrane Collaboration hatte vor sechs Jahren Studien mit mehr als 14.000 Teilnehmerinnen begutachtet. Ihr Urteil: Misoprostol sei genauso geeignet wie gängige Alternativen und führe zu weniger Notkaiserschnitten. Über extrem seltene Komplikationen ließ sich keine valide Aussage treffen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt Misoprostol sogar auf ihrer Liste der essenziellen Wirkstoffe und empfiehlt es zur Geburtseinleitung – auch weil das zu weniger Blutungen nach der Geburt führe.
Warum ist es trotzdem nicht offiziell für die Geburtshilfe zugelassen? Bei der DGGG glaubt man, dass Cytotec zu billig sei und es deshalb für das US-amerikanische Pharmaunternehmen Pfizer, das Cytotec in Deutschland vertreibt, wenig Sinn mache, teure Zulassungsstudien für ein Medikament durchzuführen, mit dem sich kaum Gewinne erzielen lassen. Zudem kämen ethische Bedenken, da Misoprostol auch für Abtreibungen verwendet werden könne. Für den Einsatz bei der Geburt vertreibt Pfizer stattdessen ein Mittel mit dem ähnlichen, aber wesentlich teureren Wirkstoff Dinoproston. Ende 2020 solle in Deutschland mit der Zulassung des Misoprostol-Präparats Angusta gestartet werden, das beispielsweise in allen skandinavischen Ländern zur Geburtseinleitung zugelassen sei.
Viel zu wenige Hebammen stehen deutschen Gebärenden zur Verfügung
Doch es gibt auch Gegenwind aus der Medizin. Professor Peter Husslein, Leiter der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Wien, erklärt gegenüber der ARD, er verwende Cytotec in seiner Klinik nicht, weil die Risiken für Mutter und Kind zu hoch seien und die Nebenwirkungen bekannt. Jeder, der sich damit beschäftige, habe das gewusst, so der Mediziner. Ihn verwundere, dass das Medikament weiterhin verwendet werde. Zu den seltenen aber möglichen Nebenwirkungen von Cytotec zählen etwa Fieber, Zittern und Wehenstürme, also ein extremer Anstieg der Wehentätigkeit und -intensität. Risse an der Gebärmutter und Sauerstoffmangel beim Kind sind mögliche Folgen. Solche Wehenstürme treten bei Überdosierung auf. Doch genau diese Dosierung ist den Recherchen der „Süddeutschen Zeitung" und Report München zufolge ein Problem. Die Leitlinien zur Geburtseinleitung der DGGG sind seit Jahren abgelaufen. Neue sind in der Entstehung. Die DGGG hat gegenüber „SZ" und BR eingeräumt, dass es Unsicherheiten hinsichtlich der Dosierung, Anwendungshäufigkeiten und Überwachung gebe und kündigte eine entsprechende Aufarbeitung an.
Seitens der Politik sieht die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Deutschen Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, vor allem Gesundheitsminister Jens Spahn in der Pflicht. Gegenüber der ARD sagte sie, es sei Aufgabe des Gesundheitsministers das Wohl der Schwangeren und des Kindes sicherzustellen. Jede Schwangere müsse darauf vertrauen können, während der Geburt optimal betreut zu werden. Jens Spahn hingegen erklärte am Rande einer Pressekonferenz, dass er die Berichterstattung zu Cytotec wahrgenommen habe und dazu Stellung abgebe, wenn er das ganze Bild kenne. Bereits Ende Januar hatten BR und „Süddeutsche Zeitung" die gesammelten Recherchen dem Gesundheitsministerium vorgelegt.
Warum aber kommt es in Deutschland überhaupt so häufig zu Interventionen bei der Geburt? Laut dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) bekam in Deutschland jede vierte Frau ein wehensteigerndes Mittel, bei jeder zehnten wurde die Wehentätigkeit mit wehenhemmenden Mittel gebremst und jede vierte Frau erhielt eine Rückenmarksnarkose, kurz PDA. Jede fünfte Geburt wird – ob mit oder ohne Cytotec – eingeleitet. Eine Umfrage der Gesundheitswissenschaftlerin Dr. Christiane Schwarz ergab, dass sich rund die Hälfte der Frauen mehr Zeit und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung gewünscht hätten. 57 Prozent der Frauen „würden sich bei einer weiteren Schwangerschaft nicht noch einmal für eine Einleitung entscheiden oder sie ihrer besten Freundin empfehlen, wenn sie die Wahl hätten". Die WHO empfiehlt eine Geburtseinleitung nur dann, wenn man relativ sicher sein kann, dass der mögliche Nutzen den möglichen Schaden einer Einleitung überwiegt. Meghan Bohren ist bei der WHO zuständig für Geburtshilfe und wertete gemeinsam mit einer internationalen Arbeitsgruppe des unabhängigen Cochrane-Netzwerkes 26 Studien aus 17 Ländern mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen mit insgesamt 15.000 Frauen aus. Das Ergebnis: Frauen, die kontinuierlich während ihrer Geburt begleitet wurden, haben häufiger spontan geboren, hatten also seltener operative Geburten mit Zange oder Saugglocke und weniger Kaiserschnitte. Außerdem brauchten sie weniger Schmerzmittel und hatten eine kürzere Geburt.
Ähnliches fand auch die Psychologin Lisa Hoffmann, die sich mit der Eins-zu-eins-Betreuung für Schwangere befasst. Diese würde nicht nur die Wahrscheinlichkeit für natürliche Geburten und positive Geburtserlebnisse erhöhen, sondern das psychische Wohlbefinden auch kurz- und langfristig beeinflussen. Frauen mit negativem Geburtserlebnis hätten eher Stillprobleme und ein geringeres emotionales Wohlbefinden im Wochenbett sowie eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten postnataler Depressionen und negativere Gefühle gegenüber dem Säugling sechs Monate nach der Geburt als Frauen mit positivem Geburtserlebnis.
2019 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium ein Gutachten zur stationären Hebammenversorgung. Darin wird klar: Während einer durchschnittlichen Schicht betreuen Hebammen drei Frauen gleichzeitig, ein Viertel von ihnen sogar mehr. Schon 2018 wurde für das Bundesgesundheitsministerium ein Gutachten erstellt, das sich mit der Vermeidung von Geburtsschäden befasst. Hier heißt es, dass der bestehende Personalmangel ein großes Sicherheitsrisiko darstelle. Auch Hebammenverbände und Elterninitiativen fordern eine Eins-zu-eins-Betreuung unter der Geburt.
Doch Besserung scheint nicht in Sicht. Das Gutachten zur stationären Hebammenversorgung kommt zu dem Schluss: „Die jüngere Entwicklung lässt auch keine Trendwende erkennen: Personalausstattung und Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten drei Jahren im Urteil der Hebammen per Saldo verschlechtert. Ein großer Teil der Hebammen bemängelt schließlich auch, dass ihnen für eine adäquate Betreuung der Frauen im Kreißsaal oft die Zeit fehle, sowie eine unangemessene Pathologisierung beziehungsweise Medikalisierung der Geburt mit zu vielen invasiven Eingriffen." 40 Prozent der Hebammen würden darüber nachdenken, ihre Arbeitszeit zu reduzieren und mehr als ein Viertel von ihnen denke darüber nach, ihre Tätigkeit komplett aufzugeben.