Dr. med. Charly Gaul, Chefarzt der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein, ist Experte für Migräne und Kopfschmerzen jeder Art. Im Interview spricht der Neurologe unter anderem über den Unterschied zwischen Migräne und anderen Kopfschmerzen, Ursachen, mögliche Auslöser von Attacken und Behandlungsmethoden.
Herr Dr. Gaul, was genau ist eigentlich Migräne?
Bei der Migräne handelt sich um eine komplexe neurologische Erkrankung auf Grundlage einer familiären Vorbelastung. Es kommt zu einer Veränderung der Reizverarbeitung im Gehirn. Die Patienten habituieren schlechter, das heißt sie gewöhnen sich später an wiederkehrende Reize. Dadurch haben Migränepatienten häufig ein sehr hohes Aufmerksamkeitsniveau, das mit einem erhöhten Energieverbrauch einhergeht. Der Migräne-Anfall ist dann die Möglichkeit des Gehirns, sich „auszuruhen" und sein Funktionsniveau zu normalisieren.
Was ist der Unterschied zwischen Migräne und normalen Kopfschmerzen?
Migräne ist deutlich mehr als der Kopfschmerz, an den man als Erstes denkt. Hinzu kommen die Begleitsymptome Übelkeit, Licht-, Geräusch- und auch Geruchsempfindlichkeit. Migränekopfschmerzen nehmen bei körperlicher Aktivität zu, es besteht ein Rückzugsbedürfnis. Darüber hinaus kommt es jedoch auch bei vielen Betroffenen zu Stimmungsschwankungen im Migräne-Anfall sowie zu Aurasymptomen (neurologische Reiz- und Ausfallsymptome) vor einem Anfall. Migräne kann also weit über den Kopfschmerz hinaus Einfluss auf das Leben nehmen, zumal unregelmäßiger Lebensstil, Störung im Schlaf-Wach-Rhythmus oder Fasten ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass Migräne-Anfälle auftreten, erhöhen.
Unter normalen Kopfschmerzen wird allgemein der Spannungskopfschmerz verstanden – ein dumpf-drückender Kopfschmerz, den nahezu alle Menschen gelegentlich haben. Es bestehen dabei keine Begleitsymptome und die Schmerzintensität ist weniger hoch.
Was passiert bei Migräne und Schmerz im Gehirn/Körper?
Es kommt zur Aktivierung bestimmter Hirnregionen, bereits bevor die Betroffenen den Migräne-Anfall bemerken. Dann breitet sich der Migräne-Anfall im Hirnstamm aus. Dort werden im Kerngebiet des Nervus trigeminus (Gesichtsnerv) Botenstoffe ausgeschüttet, die eine Kaskade von Aktivierungen entlang des Trigeminus-Nerves auslösen. Diese Kaskade erreicht die Gefäße der Hirnhaut und dort werden weitere Botenstoffe ausgeschüttet. Es kommt zu einem entzündungsähnlichen Prozess, dem Kopfschmerz mit den Begleitsymptomen. Darüber hinaus wird das vegetative Nervensystem aktiviert. Insbesondere Kinder können im Migräne-Anfall blass aussehen, Übelkeit tritt hinzu. Einer der wichtigsten Botenstoffe, die im Migräne-Anfall ausgeschüttet werden, ist Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP).
Gibt es den typischen Migränepatienten?
Psychologische Untersuchungen zeigen, dass es eine Migränepersönlichkeit nicht gibt. Hat man viel mit Migränepatienten zu tun, fällt einem jedoch auf, dass diese häufig zu Perfektionismus und hoher Einsatzbereitschaft neigen und ihre eigenen Bedürfnisse hintenanstellen. Migränebetroffene versuchen, in den anfallsfreien Zeiten ihre Aufgaben möglichst optimal zu erledigen, da sie um die Ausfallszeiten wissen. Sicherlich kann man jedoch nicht alle Migränepatienten „über einen Kamm scheren".
Welche Ursachen kann Migräne haben?
Die besondere Reizverarbeitung und die Fähigkeit des Gehirns, einen Migräne-Anfall zu erleiden, ist wahrscheinlich mit einem genetischen Risiko hinterlegt. Wobei es kein „Migräne-Gen" gibt, sondern viele Faktoren zusammenspielen. Letztlich sind Umweltfaktoren wie Stress und Lebensgewohnheiten entscheidend für die Häufigkeit der Migräne-Anfälle.
Welche Rolle spielt die Psyche bei Migräne?
Insbesondere wenn die Migräne häufig auftritt, kann es zur psychischen Komorbidität in Form von Angststörungen und Depression kommen. Depressionen treten bei fast allen Schmerzerkrankungen gehäuft auf. Letztlich ist das Problem, dass sich bei schwer betroffenen Patienten psychische Belastung und die Schmerzerkrankung gegenseitig ungünstig beeinflussen und es zu einer Art „Abwärtsspirale" kommen kann. Aufgrund dieser physischen Zuflüsse zum Erkrankungsverlauf erfordert dies einen interdisziplinären Therapieansatz, bei dem verhaltenspsychologische, ärztliche, physiotherapeutische und weitere Verfahren gemeinsam zum Einsatz kommen müssen, um erfolgreich auf die Migräne einzuwirken.
Welche Faktoren können Migräne noch begünstigen?
Ein häufiger Trigger für Attacken ist Alkohol. Das Weglassen von Mahlzeiten und Fasten sowie plötzliches Weglassen von Kaffee können Migräne-Attacken auslösen. Häufigster Trigger ist jedoch Stress. Auch der Stressabfall zum Wochenende oder emotionale Anspannung können sich ungünstig auswirken. Schichtwechsel ist für viele Betroffene ein Problem – insbesondere, wenn unregelmäßig Nachtschichten eingestreut sind.
Können sich auch ernsthafte Erkrankungen hinter Migräne oder Kopfschmerzen verbergen? Welche?
Bei der Migräne handelt sich um eine primäre Kopfschmerzerkrankung, das heißt alle weiteren Befunde sollten unauffällig sein. Stellt sich in der Patientenvorgeschichte ein typischer Erkrankungsverlauf dar, und ist der klinisch-neurologische Befund (körperliche Untersuchung durch den Neurologen) unauffällig, ist die Wahrscheinlichkeit für eine ernsthafte Erkrankung hinter der Migräne sehr gering. Sind Befunde auffällig oder passt die Anamnese nicht zu einem typischen Verlauf, sollte weitere Diagnostik erfolgen, in der Regel eine Kernspintomografie des Schädels. Hinter Kopfschmerzerkrankungen insgesamt können sich sehr viele weitere Erkrankungen verbergen. Kopfschmerz kann ein Symptom eines Infektes (zum Beispiel Kopf- und Gliederschmerzen im Rahmen einer Grippe) sein, aber auch bedrohlich bei einer Hirnhautentzündung oder bei einer Blutung im Bereich der Hirnhäute (Subarachnoidalblutung), die mit sehr schweren, plötzlichen „Kopfschmerzen wie noch nie" einhergehen kann. Kopfschmerzen, die erst nach dem 50. Lebensjahr erstmalig auftreten, sollten auf alle Fälle zur weiteren Diagnostik führen.
Wie viel Prozent der Deutschen sind etwa betroffen?
Ungefähr acht Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen sind von Migräne betroffen, auch Kinder und Jugendliche bereits, nach der Pubertät überwiegen die Mädchen dann deutlich in der Häufigkeit. Die meisten Migräne-Anfälle erleiden die Betroffenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, im Alter geht die Migräne häufig etwas zurück, es gibt jedoch eine kleine Gruppe auch im hohen Alter noch schwer betroffener Migränepatienten.
Welche Medikamente und Behandlungen sind hilfreich?
In der Behandlung werden die Akutbehandlung von Kopfschmerzattacken und die vorbeugende Behandlung (Prophylaxe) unterschieden. Zur Akutbehandlung können Schmerzmittel (Analgetika) zum Einsatz kommen. Die Wirkung ist bei frühzeitiger und ausreichend hochdosierter Einnahme am besten. Mit welchem Schmerzmittel ein Patient am besten zurechtkommt, kann durch Ausprobieren herausgefunden werden. In der Regel wird empfohlen, drei Attacken mit dem gleichen Schmerzmittel zu behandeln und dann zu entscheiden, ob die Wirkung und Verträglichkeit zufriedenstellend sind. Eingesetzt werden können Ibuprofen, Paracetamol, Acetylsalicylsäure, Diclofenac, die Kombination aus Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Koffein. Sind diese Analgetika nicht ausreichend wirksam und treten Attacken zum Beispiel stark und rasch aus dem Schlaf heraus auf, ist ein Triptan (Migränemittel) häufig erfolgreicher. In Deutschland sind die sieben Triptane Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan zugelassen, sie stehen zum Teil als Tabletten, Almotriptan und Sumatriptan auch als Nasenspray sowie Sumatriptan als Subkutaninjektion zur Verfügung. Nasensprays und Subkutaninjektion wirken häufig schneller und besser.
Und zur Prophylaxe?
Zur prophylaktischen Behandlung gehören an erster Stelle eine umfassende Beratung und Edukation (Schulung) des Patienten. Er muss seine Erkrankung kennen, den eigenverantwortlichen Umgang mit der Akutmedikation erlernen und die Risiken eines Fehl- und Übergebrauchs von Kopfschmerzmitteln erkennen. Weiterhin wirken Ausdauersport und Entspannungsverfahren, wie Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, Yoga oder Autogenes Training, migräneprophylaktisch. Auch ein Biofeedbacktraining kann eingesetzt werden. Stärker betroffene Patienten können darüber hinaus medikamentöse Prophylaxen einsetzen, hier sind seit vielen Jahren Betablocker, Kalziumantagonisten, trizyklische Antidepressiva und Antikonvulsiva (Medikamente aus der Epilepsiebehandlung) fest etabliert. Seit etwas mehr als einem Jahr sind auch monoklonale Antikörper, die sich gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor richten und in der Regel einmal monatlich unter die Haut gespritzt werden, zur Behandlung zugelassen. Diese Antikörper haben gegenüber den Standardprophylaxen eine bessere Verträglichkeit, jedoch auch einen vielfach höheren Preis, sodass der Einsatz zulasten der Krankenkasse erst dann möglich ist, wenn die Standardmedikation ausgeschöpft wurde.
Ab wann sollte Migräne in einer Schmerzklinik behandelt werden?
Stationäre Behandlungen sind für schwer betroffene Patienten geeignet, die ambulante Behandlungsmaßnahmen bereits durchgeführt haben, damit jedoch keinen Erfolg erzielen konnten oder diese Therapie nicht vertragen haben. Insbesondere wenn psychische Belastungen bestehen, hohe Fehlzeiten in Schule, Studium und Arbeitsplatz, ist ein multiprofessioneller Therapieansatz gerechtfertigt. Ziel ist es, den Patienten in vergleichsweise kurzer Zeit umfangreich mit psychologischen und physiotherapeutischen Techniken zu schulen, damit er zu Hause deutlich besser zurechtkommt. Patienten, die bereits einen Übergebrauch an Akutmedikation betreiben oder erheblich chronifiziert sind (mehr als 15 Kopfschmerztage im Monat), stellen ebenfalls eine Indikation zur stationären Behandlung dar.
Es existieren inzwischen mehrere Apps für Migränepatienten. Wie funktionieren diese, und sind sie zu empfehlen?
Apps können anstelle eines papierbasierten Kopfschmerztagebuchs sehr hilfreich sein, um Kopfschmerzhäufigkeit und die Einnahme der Akutmedikation zu monitorieren. Apps sollten jedoch nicht dazu führen, dass der Patient immer mehr nur auf den Kopfschmerz und seine Ausfälle achtet. Gute Apps vermitteln darüber hinaus Tipps im Umgang mit den Kopfschmerzen, zum Beispiel kurze Instruktionen zur körperlichen Aktivität und geben Warnmeldungen, wenn die Einnahme der Akutmedikation steigt.
Wie können Apps helfen, die Krankheit zu verbessern?
Apps können das Selbstmanagement der Patienten unterstützen, sind jedoch nicht für jeden geeignet.
Was sind die neuesten Erkenntnisse in der Migräneforschung?
Medikamentös stellen die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor einen erheblichen Fortschritt in der Behandlung dar. Wo diese Medikamente langfristig ihren Stellenwert finden, muss sich jedoch noch zeigen und hängt auch von der Kostenerstattung durch die Krankenkassen ab.
In der Entwicklung sind Medikamente, die an Stelle der Triptane eingesetzt werden können, und auch bei Patienten zum Einsatz kommen können, die kardiovaskuläre Risikofaktoren (zurückliegender Schlaganfall, Herzinfarkt, starker Bluthochdruck oder andere Gefäßerkrankungen) haben. Des Weiteren werden aktuell Medikamente entwickelt, die oral eingenommen werden können und CGRP blockieren, ohne dass dies injiziert werden muss.
Bei den psychologischen Verfahren beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe intensiv mit Triggermanagement. Die Idee ist es, vom Vermeiden aller möglichen (vermeintlichen) Auslöser zu einem Management (Bewältigen) von Auslösesituationen und Triggern überzugehen, um eine bessere Lebensqualität zu sichern.
Welche Themen beschäftigen die Forschung ganz aktuell?
Mit molekularen und bildgebenden Methoden wird die Pathophysiologie der Migräne immer weiter erforscht. Ziel ist es, künftig auch weitere neue Substanzgruppen zur Kopfschmerzbehandlung zu entwickeln. Insbesondere bildgebende Untersuchungen tragen viel zum Verständnis bei, was im Migräne-Anfall im Gehirn abläuft.