Die wochenlangen Grenzschließungen hinterlassen tiefe Spuren. Jean-Claude Hehn, Bürgermeister der Gemeinde Alsting, hält sie schlicht für eine Katastrophe. Dazu kommt ein finanzielles Desaster, in dem die Kommunen stecken – auch im angrenzenden Département Moselle.
Monsieur Hehn, haben Sie den Entschluss bereut, dass Sie vor Kurzem bei den Kommunalwahlen noch mal angetreten sind, in Anbetracht
der Corona-Krise?
Nein, trotz der derzeitigen Schwierigkeiten überhaupt nicht. Mir macht die Arbeit als Bürgermeister weiterhin Spaß, und wir haben in der Gemeinde noch einige Projekte vor der Brust.
Wie haben Sie die Grenzschließung erlebt?
Es ist eine echte Katastrophe, vor allem für die Bevölkerung. Viele Deutsche leben in unserer Gemeinde; viele Franzosen arbeiten in Deutschland, kaufen dort ein, geben Geld aus. Es gibt zahlreiche Verbindungen, Freundschaften. Diese einseitige Schließung haben die meisten Franzosen schlicht und ergreifend nicht verstanden. Völlig unverständlich war auch die Tatsache, dass deutsche Unternehmen in Frankreich arbeiten durften, allen voran in den Kommunen entlang der Grenze, und französische Unternehmen nicht. Der Geist Europas ist mit Füßen getreten worden.
Außerdem kommt hinzu, dass wir in der Gemeinde nur ganz wenige Infektionsfälle hatten, mit Sicherheit weniger als im angrenzenden Regionalverband. Das Virus kennt keine Grenzen.
Gab es Anfeindungen beziehungsweise Beleidigungen zwischen Deutschen und Franzosen nach der Grenzschließung?
Die hat es leider auf beiden Seiten gegeben. Es sind angeblich sogar französische Autos auf deutscher Seite zerkratzt worden. All das hätte man sich vor ein paar Wochen so nicht vorstellen können. Viele ältere Mitbürger haben mir gesagt, sie würden die derzeitige Situation wie einen Rückfall in vor 70 Jahren empfinden. Da wird nach der Krise einiges aufzuarbeiten sein.
Welchen Schaden hat die deutsch-französische Freundschaft durch die einseitige Schließung der Grenzen genommen, und wie kann man das wieder beheben?
Entscheidend wird sein, wie wir aus der Krise herauskommen. Kommt es zu einer „sozialen" Krise mit hoher Arbeitslosigkeit, wird es schwierig. Ansonsten glaube ich, dass die Menschen die unschöne Grenzschließung auch schnell vergessen, wenn sie wieder normal arbeiten und einkaufen können.
Europa hat auf der hohen nationalen Ebene in der Krise nicht funktioniert, das hat uns Corona unzweifelhaft vor Augen geführt. Die lokale Politik auf deutscher und französischer Seite dagegen schon. Die Regierungen in Berlin und Paris sind vom wahren Leben in den Grenzregionen einfach zu weit weg. Das gilt es, nach der Krise zu überdenken und zu ändern.
Die finanziellen Mittel waren schon vor der Corona-Krise arg begrenzt. Was kommt auf die französischen Kommunen zu?
Die Verluste der Städte und Gemeinden nehmen auf der einen Seite drastisch zu. Die Einnahmen werden auf der anderen Seite geringer ausfallen. Viele Zuständigkeiten liegen schon heute beim Gemeindeverband, zum Beispiel die Gewerbesteuer oder die Wasserver- und Abwasserentsorgung. Die Gelder werden nach einem Schlüssel auf die einzelnen Kommunen verteilt, und das dürfte aufgrund der wirtschaftlichen Situation geringer ausfallen. Außerdem wird weniger investiert. Pro Monat kostet die Krise den französischen Staat rund 125 Milliarden Euro. Das Geld muss irgendwann zurückgezahlt werden. An Steuererhöhungen wird wohl kein Land der Welt vorbeikommen. Nehmen Sie die „taxe d’habitation", die französische Wohnsteuer. Sie soll ab 2021 wegfallen. In Anbetracht der finanziellen Situation des Staates wird das sicherlich nochmals diskutiert.
In dieser Legislaturperiode sollen wichtige Projekte vorangebracht beziehungsweise zu Ende gebracht werden. Was bleibt davon übrig?
Geplant war, das Gesundheitszentrum fertigzustellen, die Sporthalle zu sanieren und die Schulkantine zu bauen. Das ist erst einmal alles zurückgestellt. Ich hoffe aber, dass wir das eine oder andere Projekt in meiner Amtszeit zu Ende bringen können.
Alsting ist vor allem eine Wohngemeinde. Wie steht es um die wenigen Geschäfte und Lokale?
Die Geschäfte und Lokale mussten schließen. Besonders die Restaurants erleben eine schlimme Zeit, zumal das verloren gegangene Geschäft nicht mehr nachgeholt werden kann. Aber das erlebt Deutschland ja auch.
Wie steht es um die Digitalisierung in Alsting?
Da sieht es ganz gut aus, zumal Glasfaser verlegt wurde. Zahlreiche Bewohner mussten ihre Arbeit im Homeoffice erledigen, soweit möglich. Aber ich sehe auch die Gefahren der zunehmenden Isolation bei den Menschen.
Was können wir aus der Krise lernen?
Diese Krise hat uns gezeigt, dass wir alle ausnahmslos in einem Boot sitzen. Alle werden von Corona auf eine harte Probe gestellt, denn jeder von uns kann betroffen sein. Ein „weiter so wie bisher" kann es nicht geben. Reiner Profit, das Leben auf Kosten anderer, die Produktion wichtiger Güter wie Medikamente in China – das wird und muss sich ändern. Frankreich war auf diese Pandemie gesundheitstechnisch nicht gut vorbereitet. Wir werden die Welt mit anderen Augen sehen.