Plädoyer für eine Europäische Gesundheits-Union als Lehre aus der Corona-Krise.
Das Coronavirus hat zu einer weltweit nie dagewesenen Gesundheitskrise geführt. Europa konnte Pandemien in der Vergangenheit immer aus der Ferne beobachten. Ob Ebola oder Vogelgrippe, die Infektionsketten waren weit weg in Afrika oder Asien. Covid-19 hat unseren Kontinent und viele Länder in der Europäischen Union mit aller Wucht getroffen. Und siehe da, der reiche Kontinent zeigte Schwächen und Defizite, die wir ansonsten im Fernsehen nur aus Entwicklungsländern kennen.
Viele Gesundheitssysteme waren am Limit und sogar überstrapaziert. Die Ärzte mussten in etlichen Fällen die schwierige ethische Entscheidung treffen, wen sie noch behandeln können und wer ohne Behandlung sterben muss. Mangels ausreichender Schutzmaterialien wurden diejenigen infiziert, die anderen helfen sollten, Krankenschwestern und Klinikpersonal. Von Einheit und Solidarität in der EU war eine Zeit lang nicht mehr die Rede. Panikartig wurden Ausfuhrverbote für Atemmasken und Beatmungsgeräte verhängt sowie die Grenzen für die Nachbarn geschlossen. Diese schockierende Erfahrung mit mangelnder Vorbereitung, Ausrüstung und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts muss Konsequenzen haben. Wir brauchen nichts weniger als eine wahrhaftige Europäische Gesundheits-Union.
Die EU hat eine Währungsunion und eine Bankenunion, weil Wirtschaft und Geld im Binnenmarkt eine zentrale Rolle spielen. Wir lernen jetzt, das vieles wie ein Kartenhaus zusammenbricht, wenn die Gesundheit von Millionen Menschen in Gefahr ist. Eine grenzüberschreitende europäische Gesundheitspolitik war bisher nur in wenigen Fragen existent, wie zum Beispiel die Zulassung von Medikamenten durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA). Ansonsten sollte die Gesundheit eine rein nationale Angelegenheit sein, um die sich die EU nicht kümmern darf. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dies ein Trugschluss ist. Wir sind mittlerweile so vernetzt und verbunden, dass Gesundheitsprobleme in einem Land schnell negative Auswirkungen auf andere Länder zeigen.
Stresstest für Gesundheitssysteme
Eine europäische Gesundheitsstrategie hat mit einem ganzen Bündel von Themen zu tun. Die Gesundheitssysteme aller Mitgliedstaaten sollten einem „Stresstest" unterzogen werden. Wir brauchen Standards für eine gute Grundausstattung der Gesundheitsdienste. In den letzten Jahren hat dieser Sektor arg gelitten und wurde teilweise kaputtgespart. Europäische Hilfen könnten zielgenau eingesetzt werden, um eklatante Defizite zu beseitigen.
Europa hat sich im Laufe der Jahre von Drittstaaten abhängig gemacht. Medikamente werden im großen Stil aus Indien importiert und Medizinartikel aus China. Diese Lieferketten müssen auf ihre Verletzlichkeit hin überprüft und korrigiert werden. Strategische Reserven für die nötigsten Mittel müssen gemeinsam angelegt werden. Ohne Diskriminierung steht diese Infrastruktur der Gesundheit dann allen zur Verfügung.
Die EU sollte ebenfalls Regeln erarbeiten, wie Ärzte und Klinikpersonal über die Grenzen hinweg aushelfen und arbeiten dürfen. Die wenigen freiwilligen Einsätze in den letzten Wochen sind lobenswert aber nicht ausreichend. Notwendig sind Gesundheitsstandards am Arbeitsplatz, im Lebensmittelsektor und im Bereich der Drogen. Wir erleben gerade, wie Erntehelfer und Gastarbeiter durch schlechte Hygienemaßnahmen besonders betroffen sind.
Zu guter Letzt sollte die Corona-Pandemie ein Ansporn sein, eine gemeinsame Europäische Gesundheitsforschung voranzutreiben. Als hoch entwickelter Teil der Welt sollte Europa ein Beispiel geben in der Erforschung von Medikamenten zur Bekämpfung von Viren, aber auch von anderen Krankheiten wie Krebs. Mit öffentlichen Mitteln unterstützt sollten solche lebenserhaltenden Medikamente zu angemessenen Preisen erhältlich sein und nicht nur privilegierten Personenkreisen zur Verfügung stehen.
Das ist der Auftrag der Corona-Krise an die EU wie an ihre Mitgliedstaaten. Gute Gesundheit ist ein Grundrecht. Gesundheitspolitik – über Grenzen hinweg – muss einen höheren Stellenwert erhalten.