Die Fragen um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie gehen tiefer als es die exorbitanten wirtschaftlichen und finanziellen Schäden ahnen lassen. Die Diskussion steht erst am Anfang.
Im Jahr 1998 sorgte der damalige Ärztepräsident Karsten Vilmar für einen Skandal, als er Reformen im Gesundheitssystem mit den Worten kommentierte, diese führten zu einem „sozialverträglichen Frühableben" (älterer Patienten). 22 Jahre später ist es der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der die Gemüter auf die Palme bringt: „Ich sag’s Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Ein Satz wie ein Keulenschlag, nüchtern, kalt – doch sachlich womöglich nicht mal falsch. Zuvor hatte schon Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) mit seiner Corona-Meinung aufhorchen lassen: Die Behauptung, „alles andere" habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, sei „in dieser Absolutheit nicht richtig".
Da sind wir mittendrin in einer ethischen Debatte, bei der vermutlich auch Immanuel Kant ins Grübeln käme. Was ist richtig, was ist falsch? Welche Würde ist gemeint, wenn der Staat, wenn die Gesellschaft in einer existenziellen Ausnahmesituation abwägen muss zwischen unverhandelbaren Rechtsgütern, zwischen gut begründeten Interessen auf allen Seiten? Fraglos hat sich Palmer in der Wortwahl vergriffen. Er hat mit der „nackten Wahrheit" provoziert, wo angesichts der Hypersensibilität des Themas eine verhüllte und damit weniger schmerzhafte Wahrheit angebracht gewesen wäre. Doch darf der radikale Grüne moralisch verurteilt werden, weil seine Abwägung eine andere Gewichtung hatte?
Die Debatte um Moral in Zeiten der Corona zeigt beispielhaft, dass wir in schwierigen Fragen durchaus unterschiedlicher Meinung sein können – und trotzdem alle irgendwie Recht haben: Jene, die es als höchste Pflicht ansehen, das tückische Virus mit allen Mitteln zu bekämpfen. Die Mahner, die auf die immensen Kollateralschäden hinweisen, die bereits jetzt jedes vorstellbare Maß überstiegen haben. Und auch die Warner, die an die psychischen Folgen und die sozialen und emotionalen Belastungen jener Mitbürger erinnern, die in engen Wohnungen oder in Kurzarbeit die Hauptlast der strikten Schutzmaßnahmen tragen müssen. Corona, auch dieser Aspekt gehört zur Moral, tötet nicht nur massenhaft Menschen, sondern richtet auch volkswirtschaftlich den größten Schaden an, der jemals auf dieser Welt entstanden ist. Das global wütende Virus kostet (materiell) vermutlich mehr als beide Weltkriege zusammen, allein die USA rechnen mit zwei Billionen Dollar, die Europäische Union erwartet die schlimmste Rezession ihrer Geschichte, die ganze Welt ist vom wirtschaftlichen Niedergang betroffen. Milliarden Menschen leiden unter den Folgen von Corona, respektive der Schutzmaßnahmen.
Eine Zahl von Unicef: 500 Millionen Kinder in Afrika, für die die Schulspeisung die einzige tägliche (warme) Mahlzeit war, bekommen wegen der Schulschließungen diese Nahrung nicht mehr. Und viele Millionen Menschen in aller Welt werden durch Arbeitslosigkeit oder andere Folgen der Schutzmaßnahmen in psychische Not und physisches Elend gestürzt. Deshalb ist eine Debatte, die das Giga-Thema „ganzheitlich" betrachtet und sich nicht auf den Schutz des Lebens der Patienten beschränkt, nicht nur legitim, sondern auch geboten. Das Leben, ein simpler Befund, führt zwangsläufig zum Tod. Die Frage, ob die zuvor unvorstellbaren Maßnahmen zum Schutz vor Covid-19 angemessen waren oder nicht, lässt sich derzeit nicht seriös beantworten. Darüber werden die Historiker und Moralapostel befinden müssen, wenn sie eines Tages Bilanz ziehen. Es wäre spannend zu wissen, ob dabei auch die Frage aufgeworfen wird, ob man mit einem Bruchteil der Mittel, die jetzt für den Kampf gegen Corona zur Verfügung stehen, auch andere Menschenleben – Opfer von Unterernährung, fehlender Hygiene, medizinisch unzulänglicher Versorgung – hätte retten können.