Zuerst kamen die Überschwemmungen. Dann die Heuschrecken. Dann das Virus. Und am Ende des Geldes der Hunger. In Afrika leiden derzeit vor allem diejenigen, die keine Rücklagen haben, unter den Ausgangsbeschränkungen. Hilfswerke fordern einen kompletten Schuldenerlass.
Epidemien sind für Afrika kein Neuland. 2014 bis 2016 hielt einer der schwersten Ebola-Ausbrüche der Geschichte mehrere westafrikanische Länder im Würgegriff, gut 11.000 Menschen starben. Seit 2018/19 sind die Demokratische Republik Kongo und Uganda Opfer einer neuen Ebola-Epidemie. An Masern starben im Kongo seit dem Ausbruch 2019 fast 6.000 Menschen, vor allem Kinder, ebenso in Madagaskar, wo zeitgleich bis heute Fälle von Lungen- und Beulenpest gemeldet werden. Und nun Sars-Cov-2. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt der gesamte Kontinent, Stand 11. Mai, rund 63.000 Infektionen, 16.325 genesene Corona-Patienten und 1.908 Todesfälle. Im Vergleich zu manch europäischem Hotspot wie Norditalien, Madrid oder in Großbritannien vergleichsweise geringe Zahlen. Das Einfallstor für das Virus: vor allem Nord- und Südafrika. Mitte bis Ende Februar gibt es erste bestätigte Fälle auf dem Kontinent, in Ägypten, Algerien und Nigeria. Um das neue Coronavirus zu bekämpfen, trainiert die WHO derzeit medizinisches Personal vor Ort und versucht, Krankenhäuser auf Covid-19 vorzubereiten. Für den „Strategic Response Plan" gibt die WHO gegenwärtig 455 Millionen US-Dollar aus. Die Folgen für den Kontinent könnten dennoch verheerend werden – und zwar vor allem sozial: 85 Prozent der Bevölkerung Afrikas steht in keinem festen Beschäftigungsverhältnis.
Die sozialen Netze sind, bis auf Südafrika, dünn bis nicht vorhanden. Einen langen Lockdown hält nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mehrere Wochen lang finanziell durch – es droht eine Hungerkatastrophe. Hinzu kommen in Teilen Ostafrikas natürliche Plagen, die die Ernte bedrohen.
In Ruanda beispielsweise ist die gesundheitliche Lage derzeit verhältnismäßig ruhig. Das Land meldete lediglich 280 Fälle von Corona-Infektionen, gestorben sei bislang niemand. Die Regierung hat bereits erste Lockerungen bekanntgegeben. Wie viele tatsächlich infiziert sind, ist unbekannt. Rolf Rüdiger Burkart chattet täglich mit Menschen aus Ruanda. Der pensionierte Beamte leitet den Verein Fasha-Ngo-I-Butare (Hilfe für Butare), der zivile Projekte in Butare, der Universitätsstadt von Ruanda, unterstützt. „Die offiziellen Corona-Fallzahlen sind niedrig, auch wegen zu weniger Tests", so Burkart, „aber die Auswirkungen des Lockdowns treffen die Menschen erkennbar hart." Sofort nach dem ersten Fall hat Ruanda Ausgangsbeschränkungen erlassen und streng überwacht. Ein soziales Netz wie in Deutschland, das die zahlreichen Mofa-Taxifahrer, Kioskbesitzer oder Ladenbetreiber unterstützt, gibt es jedoch nicht. Wer keinen Garten zu Hause hat, in dem Obst und Gemüse angebaut wird, hat am Ende seines Geldes nichts zu essen. „Schon jetzt berichten mir Freunde aus Butare, dass Kinder im Müll der Reichenviertel nach Essbarem wühlen."
455 Millionen Dollar gegen Corona
Ruanda im Osten des Kontinents ist als Transitland für Bodenschätze wie Seltene Erden aus dem Kongo reich geworden. Weil der Staat über Bedarf Akademiker ausbildet, machen sich viele davon selbstständig, gründen Läden und Unternehmen, beobachtet Burkart. Kaum einer habe jedoch in der Krise Rücklagen. Hinzu komme der Klimawandel: Ostafrika werde derzeit von zum Teil sintflutartigen Regenfällen und Überschwemmungen heimgesucht. Durch diese vermehrten sich Heuschrecken rasend und bedrohen nun zusätzlich die Ernte, im Augenblick noch in den Nachbarstaaten wie Kenia oder Somalia.
Burkarts Verein versucht nun, mit Geld und Hygieneartikeln in der aktuellen Krise zu helfen. So greift er Pfarrern in der Diözese Butare unter die Arme, denn diese sind ohne Gottesdienste mittellos: Bezahlt werden sie durch einen festen Anteil aus der Gemeindekollekte. „Mit den Hilfsgeldern, die wir hier sammeln und nach Butare schicken, können die Menschen vor Ort das einkaufen, was sie benötigen und damit auch ihre Wirtschaft regional unterstützen." Auch ein Projekt, das 50 minderjährige Mütter in ihrer Ausbildung unterstützen sollte, wird nun teilweise umgewidmet, das Geld in Nahrungsmittel für die jungen Mütter, ihre Kinder und ihre Familien investiert. „Hier sprechen wir dann von 300 Menschen, denen wir so helfen können."
Die teils brutale Überwachung macht auch den Hilfsorganisationen Sorgen. Maria Klatte, Afrika-Abteilungsleiterin des katholischen Hilfswerks Misereor, und Reinhard Palm, Leiter der Abteilung Afrika des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt, bestätigen, dass Regierungen zum Teil mit drastischen Maßnahmen die Ausgangsbeschränkungen durchsetzen, zum Beispiel im Tschad, in Südafrika oder Simbabwe. „Wir erhielten zum Beispiel Meldungen, dass die Polizei in Simbabwe einen illegalen Nachtmarkt geräumt und dann zerstört hat", so Palm. Für Maria Klatte ist diese Härte unangemessen, hart werde es für viele Menschen in Afrika auch ohne Repressalien des Staates. „Vor allem in den bevölkerungsreichen Zentren des Kontinents wie Kinshasa, Lagos, Kapstadt oder Nairobi ist es schwer, den Lockdown durchzusetzen. Zum einen leben die Menschen ohnehin dort oft auf engstem Raum beieinander. Zum anderen sind sie oftmals auf Tagelöhner-Jobs angewiesen – und die fallen nun allesamt weg."
Radios senden Schulprogramme
Die soziale Ungleichheit trete nun offen zutage. Schon jetzt explodieren die Zahlen von sexueller und häuslicher Gewalt, weil Kinder nicht mehr in die Schule gehen, wo sie eine gewisse Zeit am Tag davor geschützt seien. Wo sie nicht unterrichtet werden können, senden nun Radiosender Schulprogramme. Und: „Wir befürchten, dass der schwere Ausbruch des Coronavirus erst noch bevorsteht. Die Zahl der hungernden Menschen in Afrika könnte sich so noch verdoppeln", so Reinhard Palm von Brot für die Welt. Immerhin hemmen Faktoren das Virus in Afrika: weite Entfernungen, die geringe Mobilität der Menschen. 70 Prozent der afrikanischen Bevölkerung lebt auf dem Land. Zudem ist die Gesamtbevölkerung durchschnittlich jünger als in Europa. Defizite jedoch bleiben. Krankenhäuser sind schon heute unterbesetzt und schlecht ausgestattet, zahlreiche Afrikaner leiden unter Vorerkrankungen, so der Entwicklungsökonom Prof. Dr. Tilman Brück.
Auch die Staaten Afrikas treffe die Krise hart. „Länder wie Angola und Nigeria bestreiten bis zu 80 Prozent ihres Staatshaushaltes aus Ölexporten. Aber der Preis ist im Keller", erklärt Palm, „deshalb kann man in diesen Zeiten schon befürchten, dass es Staatspleiten geben kann. Dabei waren insbesondere diese beiden Länder bislang auf dem Weg zu stabileren Demokratien." Dass der Internationale Währungsfonds den afrikanischen Ländern nun Schulden stunden will, halten Klatte und Palm für einen ersten, richtigen Schritt. „Wir werden aber nicht umhinkommen, Schulden zu erlassen, um die sozioökonomischen Folgen der Corona-Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent aufzufangen", so Palm.
Dass womöglich eine Hungerkatastrophe gewaltigen Ausmaßes droht, darauf hat Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) bereits mit Nachdruck hingewiesen. Schon jetzt hungern laut Welternährungsprogramm 250 Millionen Menschen auf dem Kontinent. Müller nun möchte die europäische Afrikapolitik ändern: Im Mai endet ein Vertrag zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union. Der Cotonou-Pakt regelt den Handel zwischen den Kontinenten – und der ist bislang ziemlich einseitig, zugunsten der EU. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft soll ein neuer Vertrag daher faire Klima- und Energiepartnerschaften, Migration, Handel und die Bekämpfung von Hunger und Armut regeln. Ein guter Ansatz, findet Maria Klatte von Misereor. „Dieser Prozess aber ist gerade aus dem Blick geraten. Verständlicherweise blicken wir im Moment nur auf unsere nächste Umgebung. Aber das Coronavirus zeigt eines: wie sehr wir, über alle Ethnien hinweg, global aufeinander angewiesen sind. Wir sollten nicht den Fehler machen und nur auf uns schauen."