Im Naturpark Mëllerdall im Großherzogtum Luxemburg führt ein Trail durch urwaldähnliche Wälder, beeindruckende Schluchten, an wildromantische Bäche und durch eine Welt aus bizarren Sandsteinfelsen, die Geschichten von früher erzählen.
Unter den Schuhen knistert das Laub. Weichgrüne Mooskleider umhüllen die Felsen am Wegrand. Von einem fällt Efeu wie eine Lockenfrisur herab.
In diesem mystischen „Herr der Ringe"-Wald wächst am Boden ein Teppich aus Farnen. Eine Kurve weiter biegen sich die Äste, als wären sie Turner beim Flic Flac. War da nicht ein Geräusch? Nein, nur ein paar zu Boden segelnde Blätter rascheln leise. Welch’ Glück, denn einer Legende nach, sang hier einst eine schöne Prinzessin. Als die Ritter vorbeikamen und ihr heimlich lauschten, ließ sie diese in Stein verwandeln. Es müssen viele gewesen sein, denn das Müllerthal ist gespickt mit bizarren Felsen. Einige haben richtige Gesichter: Löcher für die Augen, einen Baum als Nase, der Mund ist ein Spalt, darin liegen würfelförmige Brocken wie schiefe Zähne.
Der Müllerthal-Trail führt in drei Schlaufen durch West-Luxemburg. Jede steht für einen anderen Schwerpunkt: Eine für Feld, Wald, Wiesen, die andere für spektakuläre Felsformationen, bei der dritten wandert man durch zauberhafte Bachtäler und vorbei an romantischen Burgen. Sechs Tage braucht man für die 112 Kilometer Wanderweg. Auf der zweiten Schlaufe geht es über Wurzelpfade und uralte Steinstufen hügelauf und -ab durch das Herz der „kleinen Luxemburger Schweiz". Unterwegs gibt es viel zu sehen: Tellergroße Pilze überwuchern alte Buchenstämme. Felsen mit Schleifrillen, als hätte Gulliver mit seinen übergroßen Nägeln daran gekratzt. Der Fels mit Namen Predigtstuhl hat die Form einer senkrecht stehenden Wolke und ragt mit seinen Ausbuchtungen bis weit über eine Straße. Am Breechkaul oder Hohllay spannt sich über dem sandigen Boden ein Gewölbe, in dessen Decke man noch runde Abrisse erkennt. Hier haben Steinmetze bis ins 19. Jahrhundert 700 Kilo schwere Mühlsteine aus dem Fels gebrochen, was Schwerstarbeit gewesen sein muss. Aus dieser Zeit stammt auch der Name Müllerthal. Damals gab es 70 Wassermühlen in der Region für die Herstellung von Getreide, aber auch Öl und Filz.
Der Müllerthal-Trail wurde 2008 eingerichtet. Seither markiert den Weg ein rotes M, das aussieht, als hätte ein Herr Müller statt seiner Unterschrift hastig seinen Anfangsbuchstaben aufs Papier gekritzelt. Die Beliebtheit des Wanderwegs steigt von Jahr zu Jahr und die Wandervereinigung gab ihm das Prädikat: „Leading Quality Trail – Best of Europe".
700 Kilo schwere Mühlsteine aus dem Fels gebrochen
Zwischen den Wandertagen kann man in der romantischen Kleinstadt Echternach in einem ehemaligen Wehrturm übernachten. Die Stadt hat in zwei der fünf Türme Ferienwohnungen eingerichtet, die sie auch nächteweise vermietet. Die Innenstadt bezaubert mit mittelalterlichem Flair, mit verwinkelten Gassen und hübschen Häusern. Jedes Frühjahr findet hier die Springprozession statt. Dabei hüpfen Tausende Pilger und Einheimische zu Blasmusik mit weißen Tüchern in den Händen durch die Straßen. Das außergewöhnliche christliche Ereignis, dessen Ursprung sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt, wird jährlich von vielen Zuschauern aus dem In- und Ausland verfolgt.
Am nächsten Tag blinzelt unterwegs die Sonne durchs Blätterwerk, beleuchtet Sandsteinfelsen mit Hunderten kleinen Grübchen. Diese sogenannte Wabenverwitterung entsteht, wenn sich Salze im Sedimentgestein verflüssigen und dann auskristallisieren. Besonders große Löcher sieht man an einem höhlenartigen Gebilde namens Méchelskierch. Ende des 18. Jahrhunderts wohnte darin ein Einsiedler namens Michel, der täglich betete. Damals lebten mehrere Eremiten in solchen Felsen. Sie ernährten sich von Waldfrüchten und Spenden der Dorfbewohner.
Mühle aus dem 17. Jahrhundert
In den Felsen erkennt man immer mehr Formen und Figuren: eine Schildkröte, ein Wildschwein, einen Greis. „Ja, wir sind steinreich", sagt Robi Baden. Der sympathische Luxemburger mit Brille und Schnauzbart ist Mitbegründer des Wanderwegs, und seine Spezialität ist das Wandern auf den Spuren der Gesichter. Obendrein hat er ein Faible für Mühlen. Im 24-Einwohner-Dorf Müllerthal hat der gelernte Schreiner die „Heringer Millen" aus dem 17. Jahrhundert restauriert. Jetzt bietet er dort neben Informationen über die Region und geführten Wanderungen auch Brotbackkurse an. Dabei zeigt er mit viel Humor, wie man Körner zu Mehl mahlt und warum die Mühle am rauschenden Bach klipp-klappt. Das angrenzende Mühlenrestaurant lockt selbst Unternehmer aus Luxemburg her. Nach einer Stärkung mit Flammkuchen und „Feierstengszalot" (Rindfleischsalat mit Kräutern) zeigt Robi die Wassermühle, die nach der Renovierung wieder gut funktioniert. Um Wanderer anzulocken vermietet er auch kostenlos Marken-Wanderschuhe und -Klamotten zum Testen, Wanderstöcke im Wert von 200 Euro, ein Fernglas 600 Euro – alles ohne Pfand! Um möglichen Diebstahl sorgt er sich nicht. „Wanderer sind ehrliche Menschen", sagt er. „Bisher kam jedes Teil zurück."
Nach der Pause geht es weiter zu einem der spannendsten Steingebilde – den „Kuelscheier". Hier laden Schilder zu einer Abenteuertour mitten durch den Felsen ein. Erdrutsche haben die Wände vor 190 Millionen Jahren entzweit und in der Mitte einen schmalen höhlenartigen Riss hinterlassen, den man heute durchqueren kann. Um hineinzukommen muss man den Bauch einziehen – „Der ‚Weightwatcher-Felsen!’", lacht Robi. Eine Taschenlampe sollte man dabeihaben, denn drinnen ist es völlig dunkel. Sicher ein gutes Versteck vor früheren Raubrittern!
Der Sage nach gibt es einen Schatz
Als Wahrzeichen des Müllerthals gilt der „Schiessentümpel". Hier führt eine zugewucherte Steinbrücke über die Schwarze Ernz. Einer Sage nach soll dort im Schlussstein, der die Brücke zusammenhält, ein Schatz versteckt sein. Womöglich auch deshalb ist sie ein beliebtes Fotomotiv. Ein Stück weiter südlich liegt eine Kalktuffquelle, die bunt anmutet wie ein Kandinsky-Gemälde: Aus einem grün bemoosten Berg fließt über rostrote und gelbe Steine Quellwasser in einen türkisfarbenen Tümpel. Ganz in der Nähe hat man in den 50er-Jahren den „Loschbur-Mann" gefunden – er wird seither als „ältester Luxemburger" bezeichnet. Es handelt sich um das Skelett eines Mannes, das vermutlich durch den Kalkgehalt im Boden über 8.000 Jahre erhalten blieb und heute im naturkundlichem Museum in Luxemburg-Stadt liegt. Und auch an der Kalkquelle schaut wieder ein Gesicht aus der Landschaft: Diesmal sieht es aus wie ein pausbäckiger Indianer.