Mit ihrer Vielfalt ist Berlins zeitgenössische Tanzszene ein Aushängeschild für die Kulturlandschaft in der Hauptstadt. Doch die Corona-Krise trifft Tänzer und Choreografen schwer, bedroht viele in ihrer Existenz.
Joggen, immer wieder joggen, die immer gleichen Laufwege hin und zurück. Zu Hause etwas Fitness-Training, Yoga und Pilates, sofern das möglich ist im eigenen Wohnzimmer oder in der WG und sofern die Kräfte zur Selbstdisziplin noch ausreichen. Kontakte nur per Telefon, Skype, Zoom oder über Messengerdienste. Mehr geht nicht im Corona-Lockdown für Tanzkünstlerinnen und -künstler, denn die Studios und Probenhäuser sind geschlossen, selbst für Compagnie-Mitglieder ist Einzeltraining mit ihrer Choreografin selten möglich. Toula Limnaios, die seit 1997 in Berlin mit ihrer Compagnie ansässig ist, bietet das an. Stundenweise, das Studio wird ständig desinfiziert. Aber das ist eine Ausnahme. Für fast alle Tänzerinnen und Tänzer ist momentan an professionelles Training, an gemeinsame Proben und sei es auch nur zu zweit, noch lange nicht zu denken.
Nur die Choreografen haben es etwas leichter, können sich mit der Entwicklung künftiger Projekte beschäftigen. Werden wir in Zukunft hauptsächlich Solostücke sehen und Tanzstücke, die sich mit Nähe und Distanz beschäftigen? Tanzstücke, die mit der Lustangst vor Nähe spielen, erhöhter Herzschlag ab einem Abstand von 1,50 Metern? Und wie viele Solokünstler und freie Gruppen werden nach der Corona-Krise überhaupt noch künstlerisch aktiv sein? Sämtliche Vorstellungen, Festivals und Gastspiel-Reisen sind abgesagt, auch die meisten anderen Verdienstmöglichkeiten der ohnehin zu Flexibilität gezwungenen freien Künstler, von Unterricht bis Kellnern, sind weggebrochen. Viele haben zwar die Soforthilfe 1 des Berliner Senats beantragt und kommen, je nach selbst auferlegter Sparsamkeit, damit einige Monate über die Runden.
Die Soforthilfe 2, der sogenannte Corona-Zuschuss kommt für die meisten jedoch nicht infrage, sei es, weil „Über- und Doppelkompensationen" vermieden werden müssen oder weil damit nur Betriebs-, jedoch keine Personal- oder Honorar-Ausfallkosten gedeckt werden können. Wie viele freie Künstlerinnen und Künstler werden also Grundsicherung beantragen müssen? Auch wenn dies nicht ihren Wünschen entspricht, wollen sie doch für ihre künstlerische Arbeit bezahlt werden.
Auf diesen Aspekt weisen die Berliner Choreografin Kareth Schaffer, die auch kulturpolitisch äußerst aktiv ist, und Marie Henrion vom Tanzbüro Berlin ausdrücklich hin. Und unabhängig voneinander erinnern beide an das Ringen um ein neues Berliner Förder-Instrument, das Pilotprojekt „Tanzpraxis". Entwickelt wurde es 2018 vom „Runden Tisch Tanz" als ein Langzeitstipendium für Tanzkünstler zur Finanzierung von Leben und Arbeiten unabhängig von konkreten Projekten und Aufführungszwängen. In Corona-Zeiten könnte dieses Stipendium nun zur Rettung für viele Tanzkünstlerinnen und -künstler werden. Und die gute Nachricht: Die zunächst auf unbestimmte Zeit verschobene Ausschreibung der Stipendien soll nach Auskunft der Senatsverwaltung für Kultur und Europa noch im Frühsommer starten, das Stipendium soll noch in diesem Jahr erstmals ausgezahlt werden.
Aber ist dies mehr als der Tropfen auf den heißen Stein? Immerhin, so Kareth Schaffer, droht gerade die komplette Tanzszene der Stadt wegzubrechen. Auf welche Infrastruktur kann etwa der bis jetzt stetig nachdrängende Tanznachwuchs in Zukunft überhaupt noch zurückgreifen? Welche Probenhäuser und Produktionsorte werden die Corona-Krise überstehen? Für den Nachwuchs kämpft derzeit das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz (HZT), das wie seine Träger-Institutionen, die Universität der Künste und die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, eine Art „Flexi-Semester" ausgerufen hat. Dabei wird, so Nik Haffner, der Künstlerische Direktor des HZT, das Sommersemester nicht zur Regelstudienzeit angerechnet, und die Studierenden können die digitalen Lehrangebote wahrnehmen, müssen dies jedoch nicht. Ein regulärer Unterricht findet ohnehin nicht statt, Kurse werden lediglich online angeboten, fast die Hälfte der Studierenden ist irgendwo in Europa oder in der Welt gestrandet. Immerhin, sagt Haffner, könnte die Corona-Zeit zu einer Transformation der Tanzkunst ins Digitale beitragen. So wie gerade neue Online-Unterrichtsformate entwickelt werden, wird sich die Bühnenkunst Tanz im digitalen Raum weiterentwickeln.
Auf Stillstand folgt Vorwärtsdrängen
Das spüren bereits jetzt die Berliner Compagnien, die ein Online-Programm anbieten, wie etwa Sasha Waltz & Guest, die Cie. Toula Limnaios oder Constanza Macras. Das simple Streamen von Aufzeichnungen früherer Aufführungen reicht den Online-Zuschauern schon lange nicht mehr aus. Sasha Waltz & Guests präsentieren daher auch tagebuchartige, ein bis drei Minuten lange Filme der Tänzerinnen und Tänzer aus deren Wohnzimmern. Toula Limnaios hat ein jeweils einwöchiges Online-Programm entwickelt mit Porträt-Filmen, Dokumentationen und Filmversionen ihrer Choreografien, und sie arbeitet an neuen Livestream-Formaten, minutiös geprobten Online-Aufführungen. Und die Tänzer und Tänzerinnen von Constanza Macras bieten täglich kostenfreie Trainingsstunden an, offen für jeden. Wer nicht möchte, dass andere ihn oder sie beim Training im Wohnzimmer beobachten, kann die Videofunktion ausschalten.
Tanz aus Berlin sei online sehr präsent und das Angebot werde stark genutzt, sagt Ralf Ollertz, der Mitbegründer der Cie. Toula Limnaios und künstlerische Direktor der Halle Tanzbühne. An einem Tag 1.800 Zugriffe von Zuschauern aus 69 Ländern seien normal, Soli-Tickets würden erfreulich oft gekauft. Und doch warnt auch Ollertz, die „gesamte Infrastruktur von Tanz in Berlin" sei bedroht.
So sind auch bei den Tanzfestivals in der Region die Sorgen groß. Die Jubiläumsausgabe der Potsdamer Tanztage wurde bereits vom Mai in den August verlegt. In welcher Form das Festival zum 30-jährigen Bestehen wird stattfinden können, ist noch unklar. Ebenso wie die Frage, ob es in diesem Jahr eine weitere Ausgabe des größten deutschen Tanzfestivals „Tanz im August" geben wird.
Trotz der derzeit desaströsen Lage in der zeitgenössischen Tanzszene fällt eines auf: Es wird gerade viel kreatives Potenzial freigesetzt. Dies bestätigt auch Marie Henrion vom Tanzbüro Berlin. Es wird nach Möglichkeiten gesucht, Online-Formate weiterzuentwickeln und schon in naher Zukunft Einzelproben für Tänzer und sogar Aufführungen möglich zu machen. Natürlich unter strenger Wahrung von Hygieneauflagen und Abstandsregeln.
Dem Schock, der wie paralysierten Reaktion auf die komplette Einstellung des Spielbetriebes folgt nun eine Phase des Vorwärts-Drängens. So sieht es auch der Berliner Choreograf Sergiu Matis. Er hat versucht, die erste Corona-Phase für „meditatives Nichtstun" zu nutzen und beschäftigt sich nun trotz aller Absagen der geplanten Projekte und Premieren in Berlin, Malta und Rumänien mit Zukunftsfragen. Was heißt es, unter den gegenwärtigen Umständen Kunst zu machen? Wie kann die Kunstform Tanz weiterentwickelt werden? Welchen Einfluss kann gerade die Kunst auf Politik und Gesellschaft nehmen? Und wie kann Gesellschaft anders gedacht werden als lediglich aus wirtschaftlicher oder derzeit wissenschaftlicher Perspektive? Dies seien die Themen, mit denen er sich in der Isolation beschäftige – neben Joggen, Radfahren und Fitnesstraining zu Hause.