Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Deutschland hatte kapituliert. 75 Jahre später erzählte die ehemalige Trümmerfrau Barbara Theisen von ihren Erinnerungen an diese Zeit. Kurz vor dieser Veröffentlichung verstarb die 100-Jährige.
Vor ein paar Monaten erst feierte Barbara Theisen ihren 100. Geburtstag. Sie hat nicht nur den Zweiten Weltkrieg erlebt, sondern auch beim Wiederaufbau eines zerstörten Landes mitgeholfen. Später prägten der Tod des ersten Kindes, hoffnungsvolle Wirtschaftswunderjahre, Zeiten des Friedens, Terror durch die Rote Armee Fraktion (RAF) und letztendlich auch die digitale Revolution ihr Leben. Hinter der Würzburgerin liegt ein bemerkenswertes Leben.
Lichterloh brannte am Abend des 16. März 1945 ihre Heimatstadt. Schon von Weitem sah sie die Rauchsäulen am nächsten Morgen. Eine kurze Verschnaufpause, dann radelte sie weiter. Dem Inferno entgegen. Sie wusste ihre Eltern und ihre Schwester mit den Kindern in der brennenden Stadt. Die Luft, vermischt mit Rauchpartikeln, hinderte sie daran, durchzuatmen. Sie drückte sich das Tuch enger ans Gesicht. Knapp 50 Kilometer lagen hinter ihr, seit sie das unterfränkische Hassfurt verlassen hatte. Denn dort arbeitete die junge Frau als Musik- und Stenografie-Lehrerin. Mittlerweile türmten sich Pakete auf dem Gepäckträger des Rades. „Unterwegs löste ich all meine Lebensmittelmarken ein, kaufte Essen und band es aufs Rad. So fuhr ich nach Würzburg." Hier wohnte die Schwester und bei ihr war zum Glück die übrige Familie – auch Mutter und Vater – versammelt. Normalerweise blieb bei einem Angriff der Vater in seiner Werkstatt in der Innenstadt, doch diesmal war er mit seiner Frau zur Tochter gegangen. „Sonst wäre das sein Todesurteil gewesen. Ich hätte ihn nie mehr gesehen", denkt Theisen heute an ihre Angst zurück.
Würzburg lag in Schutt und Asche. Alle möglichen Kräfte wurden für den Wiederaufbau benötigt. Auch sie war dabei, wollte mitmachen und helfen. „Gleich nach Kriegsende setzte man mich im Zentrum der Stadt ein. Gut erhaltene Trümmerteile mussten an einem besonders gekennzeichneten Ort abgelegt werden. Der Schutt wurde dagegen auf Loren gepackt und zum Kranenkai an den Main transportiert."
Trümmermänner gab es auch. Sie trugen die großen und schweren Stücke weg. Andere, die aus dem Krieg heimgekehrt waren, versuchten sich in ihrem erlernten Handwerk. „Aus alten Reifen wurden Schuhe gemacht, aus Holzlatten Möbel … Schreiner, Schuster, Maurer, alle wurden gebraucht."
Jeden Abend fiel sie erschöpft ins Bett. „Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, um über das Leben nachzudenken", sagt sie heute. Und dann kamen die US-Amerikaner in die Stadt. „Wir waren froh, dass sie da waren. Doch wir fragten uns auch, wie die wohl mit uns umgehen werden. Halten sie uns jetzt alle für Nazis?" An diese Gefühle erinnert sich die Seniorin. Doch es gab auch viele mutige Trümmerfrauen, die die US-Kommandanten aufsuchten und Forderungen stellten. Da ging es vor allem um die Zuteilung von mehr Wohnfläche.
Trümmermänner gab es auch
Bei der Verrichtung ihrer Arbeit trugen die Trümmerfrauen ähnliche Kleidung: „Latzschürzen, knöchellange schwarze Röcke, Strickjacken und feste Schuhe, solange man diese hatte", sagt die Hundertjährige. „Und immer hatten wir Kopftücher auf, weil es so staubig war. Spaß hat das alles nicht gemacht. Aber es war halt unsere Pflicht, im Dreck zu arbeiten. Denn nur dann gab es die dringend benötigten Lebensmittelmarken."
Mittlerweile war ihr Mann Anton aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Als Musiker tingelte der junge Mann durchs Land, um Geld zu verdienen und den Menschen etwas Schönes zu bieten.
Das Geigenspiel hatte Theisen schon als kleines Kind erlernt und so lag es nahe, dieses Instrument zu studieren. Während der ersten Jahre lernte sie die Brüder Hans und Anton Theisen kennen. Auch sie studierten am Konservatorium Geige und Klavier. Nicht nur die Liebe zu dem Instrument verband Hans und Barbara, sondern auch ihre eigene. Dann schlug das Schicksal zu. Der Zweite Weltkrieg holte Hans an die Front. Von dort kehrte er nicht mehr zurück. Auch sein Bruder Anton war als Soldat im Krieg. Bei einem Heimaturlaub verliebte er sich in Barbara und heiratete sie. Später machte sich Anton Theisen als Kapellmeister und Chordirektor am Würzburger Stadttheater einen Namen.
Jetzt sitzt die Hundertjährige im hellen Sessel in ihrer Wohnung in Würzburg. Ihre Söhne, ihre Tochter und Enkelin Anna wechseln sich mit der Betreuung ab. Zwar ist sie fast blind, doch noch immer eine Frohnatur und geistig wach. Die Erinnerungen an ihre Zeit als Trümmerfrau in den Straßen von Würzburg wird sie nicht vergessen. Hochschwanger durfte sie die Arbeit beenden. Ihr erstes Kind Johann kam im Oktober 1945 zur Welt. Nur 14 Tage später starb es. Ein Blatt Papier mit hingekritzelten Aufzeichnungen sind ihr geblieben. Dokumentiert hat sie die Nahrung und Flüssigkeit, genau auf Gramm berechnet, die der Kleine zu sich genommen hatte und jede, noch so winzige Gewichtszunahme. Wenig war es. Sehr wenig. „Er wollte nicht essen. Ärztliche Hilfe gab es nicht", sagt sie mit Tränen in den Augen. „Man hat mich nicht einmal auf seine Beerdigung gelassen. Aus Selbstschutz."
Ihr erstes Kind Johann starb 1945 nach nur 14 Tagen
Später, während der Wirtschaftswunderjahre, kam mit den Kindern Manfred, Lothar und Angela das Glück zurück. Es folgten unbeschwerte Zeiten der Kindererziehung und schließlich die Rückkehr ins Berufsleben als Lehrerin. Dann ein weiterer Schicksalsschlag kurz vor ihrer Pensionierung: Ihr Mann Anton erlag einem Herzinfarkt. Trotz der tiefen Trauer ging das Leben weiter, denn sie freute sich über die heranwachsenden Enkel. Dann erwähnt sie ihre tiefe Liebe zu Gott und den Trost, den er ihr gab und dass sie, bereits verheiratet, als Schwester Rita vom Heiligen Josef ihr Gelübde bei den Würzburger Karmeliten ablegte. „Das war mir wichtig, ich war schon immer sehr katholisch", betont Theisen. Nein, zu den Ordenstreffen gehe sie nicht mehr, dafür aber in die Kirche. „Am liebsten in den Würzburger Dom zum Bischof." Denn dort, vor der Zerstörung, sei sie schon als Kind gerne gewesen. Den Rosenkranz betet sie wöchentlich in der Kirche „Unsere Liebe Frau", in der Nähe ihrer Wohnung. „Ich bin mit dem lieben Gott aufgewachsen und rede oft mit ihm. Da ist eine ganz starke Verbindung zwischen uns", lächelt sie. Dann erzählt sie von einem Pfarrer in der Würzburger Franziskanerkirche, dessen Messe sie auch gerne besucht, „da man ihn gut versteht". Und von ihrem früheren Seelenführer, einem Pater, der jetzt in Regensburg weilt.
Manchmal noch kommen die Schatten, die in den Köpfen der Kriegsgeneration für immer bleiben: Die Schrecken, das Entsetzen, die frei gewordenen Kräfte und das Hinauswachsen über sich selbst. Barbara Theisen hat es erlebt und überlebt: Die brennende Stadt, die harte Arbeit, den Tod des ersten Kindes, dem sie mit aller Hilflosigkeit gegenüberstehen musste.
100 gelebte Jahre liegen hinter ihr. Mit wachem Verstand durchs Leben gehen, es verstehen und immer noch ein wenig mitreden. Das hatte sie immer getan, bis zuletzt. Anfang Mai verstarb Barbara Theisen. Sie schlief friedlich zu Hause ein, wie ihre Familie mitteilte. Ihre Erinnerungen aber leben weiter.