Nach der Corona-Zwangsunterbrechung haben Schulen wieder schrittweise Präsenzunterricht aufgenommen. Neue Bedingungen führen zu neuen Erfahrungen.
Während Geschäfte, Frisörsalons, Spielplätze und auch Nagelstudios wieder öffnen, geht es für die Schulen nur langsam voran. Ein normaler Betrieb, so sind Wissenschaftler und Politiker sich einig, wird noch lange auf sich warten lassen. Im Saarland gehen seit dem 4. Mai die Viertklässler und die Abschlussjahrgänge wieder zur Schule. Für die allmähliche Rückkehr der anderen Klassenstufen gibt es verschiedene Denkmodelle; dabei geht es um diffizile Abwägungen zwischen schulischem Lernfortschritt, gesundheitlichen und sozialen Gefährdungen, elterlichen Möglichkeiten und Grenzen bei der Betreuung.
Eine besondere Herausforderung ist dabei die Betreuung beziehungsweise Beschulung von Kindern mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf" wird inklusiv in Regelschulen unterrichtet, die anderen besuchen eine Förderschule. Sie haben oft einen erheblichen Bedarf an Förderung, Betreuung, Pflege und stabilen Beziehungen, was den verlässlichen Einsatz von qualifiziertem Personal notwendig macht und eine Notgruppenbetreuung zumeist ausschließt. Gleichzeitig gehören diese Schülerinnen und Schüler nicht selten zu den sogenannten „vulnerablen Gruppen", die besonders vor Ansteckung geschützt werden müssen – eine besondere Herausforderung bei einem zumeist vermehrten Bedürfnis nach Nähe, oftmals fehlender Einsicht in Hygienevorschriften und – je nach Art der Beeinträchtigung – dem Bedarf an Pflege. Die folgenden Beispiele stehen exemplarisch für die Situation an saarländischen und bundesdeutschen Schulen. Sie zeugen von einem schwierigen Spagat zwischen der dringenden Notwendigkeit für eine Beschulung auch in Zeiten von Corona und den Schwierigkeiten und Risiken, die diese mit sich bringen kann. Deutlich wird dabei vor allem eines: Es braucht Konzepte, aber auch individuelle und flexible Lösungen, damit Kinder mit hohem Förderbedarf von der Teilhabe an Bildung nicht weiter abgeschnitten und ihre Familien entlastet werden.
Luca ist 1,10 Meter groß. Dabei ist er schon sechs Jahre alt. Seine leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken, vermutlich waren auch härtere Drogen im Spiel. So genau weiß man das nicht. Mit etwa einem Jahr kam er in eine Pflegefamilie. Dort lebt er bis heute – zusammen mit der Pflegemutter, dem Pflegevater und deren erwachsenem Sohn. Im Alter von etwa drei Jahren lernte Luca langsam sprechen. Die Diagnose lautete: fetales Alkoholsyndrom. Normalerweise besucht er von 8 bis 15 Uhr die Förderschule für geistige Entwicklung. Luca geht gerne in die Schule, aber wenn er sich überfordert fühlt und ihm alles zu viel wird, beißt er manchmal. Deswegen steht ihm eine Eingliederungshelferin zur Seite – seither ist vieles besser geworden. Eigentlich …
Besonders schwierige Situation für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf
Leonie ist neun Jahre alt und besucht die zweite Klasse der örtlichen Grundschule. Sie ist ein fröhliches, temperamentvolles, willensstarkes Mädchen, das viel redet und immer wieder engen Kontakt, auch körperlich, zu den Erwachsenen sucht. Ihre Mitschülerinnen hat sie zu Beginn ihrer Schulzeit nur wenig beachtet. Erst allmählich fängt sie an, etwas selbstständiger zu sein, auch mal alleine zu arbeiten, mit anderen Kindern zu spielen. Wie Luca hat auch Leonie einen „sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung". Im Gegensatz zu diesem wird sie inklusiv unterrichtet, auch sie wird in der Schule von einer Eingliederungshilfe unterstützt. Wurde unterstützt …
Anna-Lena besucht die vierte Klasse der Grundschule. Wie Luca ist auch sie extrem klein für ihr Alter und sehr dünn, was bei ihr auf eine schwere Dia-betes verbunden mit Kleinwüchsigkeit zurückzuführen ist. Obwohl Anna-Lena eine Insulinpumpe trägt, muss sie wegen der Komplexität des Krankheitsbildes ständig überwacht werden. Während der Schulzeit erledigt das eine ausgebildete Krankenschwester, den Rest des Tages und vor allem auch nachts ist die alleinerziehende Mutter gefordert. Nachbarskinder besuchen, alleine oder mit Freundinnen draußen spielen, das ging auch zu normalen Zeiten nicht – zu gefährlich, wenn eine Unterzuckerung eintritt.
Seit dem 16. März sind die Schulen wegen Corona größtenteils geschlossen – alle Schulen, auch die Grundschulen von Anna-Lena und Leonie und die Förderschule für geistige Entwicklung, die Luca eigentlich besucht. Über die Belastungen, die die Schulschließungen für Familien generell bedeuten, wurde in den Medien von Anfang an viel berichtet und diskutiert. Es dauerte lange, bis auch die ganz besondere und besonders schwierige Situation in den Fokus rückte, die das Lernen zu Hause für Kinder mit Behinderungen und für deren Eltern bedeutet:
Lucas Pflegemutter wurde nach einer schweren Erkrankung gerade erst aus der Klinik entlassen und soll sich eigentlich zu Hause erholen. Nun kümmert sie sich zusammen mit ihrem Mann rund um die Uhr um das Kind, kocht, sorgt für Beschäftigung, versucht, ein wenig mit ihm zu lernen, erträgt die Launen und Wutausbrüche. Eine Notbetreuung vor Ort gab es in der G-Schule wochenlang nicht; der Familie wurde zugesagt, dass die Eingliederungshilfe Luca auch in seinem häuslichen Umfeld unterstützen könne. Aber die Pflegemutter, die mit ihrer Erkrankung zur Hochrisikogruppe zählt, hat Angst: Mit jedem Kontakt steigt das Infektionsrisiko.
Individuelle Lösungen oftmals notwendig
Leonies Eltern sagen, sie kommen zurecht. Eine Notbetreuung kommt nicht infrage, da die Eltern derzeit nicht berufstätig sind und zudem große Zweifel haben, dass Leonie sich auf fremde Bezugspersonen und eine fremde Kindergruppe einlassen kann. Die Familie wird von der Klassen- oder der Förderschullehrerin mit individuell angepassten Arbeitsmaterialien versorgt – mindestens einmal pro Woche per Posteinwurf oder E-Mail. Es gibt auch ein Lernprogramm, mit dem Leonie mit Unterstützung der Mutter arbeiten kann. Allerdings gibt es viel Streit. Leonie fühlt sich von den Eltern unter Druck gesetzt, sie versteht nicht, dass ihre Mutter plötzlich auch ihre Lehrerin sein soll. Die ältere Schwester ist genervt von den Launen der jüngeren und ihrer ständigen Suche nach Aufmerksamkeit. Was die lange Zeit zu Hause für die allgemeine Entwicklung des Mädchens bedeutet, für ihr Lernen, aber vor allem auch für ihre Persönlichkeit? Das wird man erst sehen, wenn die Schule für sie wieder weitergeht.
Für Anna-Lena und ihre Mutter endet die Zeit des Homeschoolings jetzt: Die vierten Klassen gehen wieder zur Schule. Doch eine große Sorge bleibt: Niemand kann sagen, wie hoch die Gefahr ist, dass Anna-Lena sich in der Schule mit dem Coronavirus infiziert. Und wie soll man als Mutter damit umgehen, wenn die Virologen sagen, dass bei Diabetikern das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf besonders hoch ist?
Auch Thomas Fey, Vorsitzender des Verbands Sonderpädagogik im Saarland, ist die Problematik aus eigener Erfahrung bewusst. Als Leiter einer Förderschule mit dem Schwerpunkt „soziale und emotionale Entwicklung" begrüßt er die nun begonnenen Schulöffnungen ausdrücklich. Gerade für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf ist es entscheidend, auf individuelle Bedürfnisse und mögliche Gefährdungen zu achten. Dies ist nur durch individuelle Reaktionen des Lehrerpersonals im Unterricht möglich. Pauschale Rezepte, die bereits vorausschauend in ein Homeschooling eingebaut werden könnten, sind hier nicht hilfreich. Es gilt, die betroffenen Schülerinnen und Schüler weiter ausreichend zu fördern, um eine weitere Öffnung der Bildungsschere zu vermeiden.