Christa Katharina Spieß hat zusammen mit rund 100 Ökonomen und Bildungsforschern einen sozialkritischen Aufruf unterzeichnet. Sie befürchtet gravierende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Folgen der Kita- und Schulschließungen.
Frau Spieß, in der Schule meines Sohnes werden in diesem Schuljahr mehrere Kinder sitzenbleiben. Sie waren vorher schon versetzungsgefährdet, ehe ihnen die Corona-Zeit und das Homeschooling quasi den Rest gegeben haben. Werden durch Corona die Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem verstärkt?
Sozial benachteiligte Kinder und solche mit Lernschwierigkeiten sind von den Schließungen besonders betroffen. Ihnen werden Orte der Fürsorge, Förderung und Verpflegung mit ausgewogenen Mahlzeiten entzogen; zudem fallen sie beispielsweise beim Erlernen der deutschen Sprache zurück, wenn zu Hause kein Deutsch gesprochen wird. Auf diese Weise vergrößern Kita- und Schulschließungen die Unterschiede in Lerngruppen, und darüber hinaus werden soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft verstärkt. Zwar gibt es bislang kaum repräsentative Daten für die Corona-Zeit. Aber wir wissen aus der Zeit vor Corona, in welchem Lernumfeld sich leistungsschwächere Schüler befinden. Dieses ist oft signifikant schlechter als bei ihren leistungsstärkeren Klassenkameraden – der Anteil ohne eigenen Schreibtisch und eigenes Zimmer zum Arbeiten ist bei den Leistungsschwächeren größer. Durch das Distanzlernen machen sich diese Ungleichheiten noch stärker bemerkbar. Zumal nicht selten einfach nur Aufgaben weitergegeben werden, ohne Rückmeldung durch die Lehrer. Dabei bräuchten gerade leistungsschwächere Schüler eine spezifische Unterstützung. Aber es geht nicht nur um die reine Wissensvermittlung.
Sondern?
Ein zentraler Aspekt ist der soziale Austausch zwischen den Schülern. Die Schule ist nicht nur dafür da, das kognitive Leistungsniveau zu verbessert, sondern auch ein Ort des sozialen Lernens. Das fällt ebenfalls weg. Zwar stammen die leistungsschwächeren Kinder nicht ausschließlich aus sozial schwachen Familien. Aber gerade für die Einkommensschwächeren ist es schwierig, wenn alle schulischen Aktivitäten wie AGs wegbrechen, weil sie sich keine teure Alternativen leisten können, die mancherorts ja wieder möglich sind.
Betrifft dieser soziale Aspekt auch die Kitas, die bislang ebenfalls nur im Notbetrieb sind?
Kitas werden in der aktuellen Debatte vielfach nur als Betreuungseinrichtung betrachtet, aber das ist falsch. Kitas sind frühkindliche Bildungseinrichtungen. In den Kindertageseinrichtungen werden die Kinder nicht nur auf die Schule, sondern auf das ganze Leben vorbereitet, was beispielsweise die Sprachentwicklung oder das soziale Lernen angeht. All das findet gerade nicht statt. Besonders bildungsbenachteiligten Kindern kann die Kita wichtige Impulse mitgeben, die ansonsten in den Familien aus den unterschiedlichsten Gründen fehlen. Diese Grundlagen, die in der Kita erworben werden, können später nur sehr viel aufwändiger und mit deutlich mehr Ressourceneinsatz erlernt werden.
100 Ökonomen aus dem Bereich der Bildungsforschung warnen in einem gemeinsamen Aufruf vor den negativen gesamtwirtschaftlichen Effekten der Kita- und Schulschließungen. Erwartet uns das dicke Ende der Corona-Krise erst in paar Jahren?
Es ist gut denkbar, dass in einigen Jahren zusätzliche Kosten auf die Gesellschaft zukommen, weil wir jetzt in unser Humanpotenzial zu wenig investiert haben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass alle diejenigen, die jetzt nicht Schritt halten können, diesen Rückstand wieder aufholen können, damit wir bald nicht noch heterogenere Klassen haben als wir es jetzt teilweise schon haben. Die sind dann noch schwerer zu unterrichten. Auch für die Leistungsstärkeren wird es irgendwann zu einem Problem, wenn die Schere zu weit auseinander geht, weil man auch ihnen dann nicht mehr richtig gerecht werden kann.
Braucht es in der Phase des Homeschoolings eine spezielle Förderung für schwächere Schüler?
Für jene Schüler, die gelernt haben eigenständig zu lernen, war diese Phase weniger schlimm als für die Leistungsschwächeren, die ja oft gerade deshalb schwächer sind, weil sie das eben nicht beherrschen. In der Schule gibt es für sie spezifische Förder- oder Inklusionsangebote. Wir bräuchten auch im Bereich des Distanzlernens einen speziellen Förderunterricht für diese Kinder. Die Lehrer müssten sich mit ihnen in Kontakt setzen und individuell mit ihnen arbeiten. Das Problem ist, dass viele Schulen dafür im Bereich der Digitalisierung gar nicht ausreichend ausgestattet sind und die Lehrkräfte nicht entsprechend ausgebildet, um solche individuelle, digitale Förderung zu ermöglichen. Aber auch vielen Schülern fehlt, wie erwähnt, das nötige technische Equipment zu Hause.
All diese Defizite existieren schon länger. In anderen Bereichen hat Corona bereits bewirkt, dass Dinge auf einmal sehr schnell umgesetzt wurden, die vorher auf sich warten ließen. Kann die Krise auch in der Bildung ein Katalysator sein?
Es ist eine Chance, die Digitalisierung voranzutreiben, die schon lange überfällig ist. Die Schulen müssen jetzt mit sehr großem Tempo diese Dinge umsetzen. Vieles wird vielleicht nicht gleich optimal laufen, aber wir haben keine Zeit mehr, die Dinge erst zur Perfektion zu bringen – wir müssen jetzt handeln! Es müssen in allen Bereichen schnelle und auch unkonventionelle Lösungen gefunden werden, damit wir tatsächlich bald wieder alle Schüler und Kitakinder mitnehmen.
Was genau fordern Sie, welche Maßnahmen sollten jetzt ergriffen werden?
Im ersten Schritt kommt es darauf an, allen Schülern das Lernen zu Hause mit entsprechender technischer Ausstattung und fachlicher Unterstützung zu ermöglichen. Gleichzeitig müssen pädagogische Fachkräfte entsprechend geschult werden. Im zweiten Schritt muss umgehend der Besuch von Kitas und Schulen allen Kindern und Jugendlichen, also unabhängig etwa von der Altersgruppe oder dem Beruf der Eltern, zumindest zeitweise wieder ermöglicht werden. Dafür braucht es aber auch ausreichend Personal, da ja vor allem wenn wegen des Infektionsschutzes in Kleingruppen gearbeitet wird. Warum machen wir es also nicht wie im Gesundheitssystem und greifen auf diejenigen zurück, die noch in der Ausbildung sind, die Lehramtsstudierenden oder auch die Erzieherinnen und Erzieher in Ausbildung? Wir benötigen aber nicht nur mehr Personal, sondern auch zusätzliche Räume, um die kleineren Gruppen unterzubringen und so mehr Schülern einen Präsenzunterricht zu ermöglichen. Das können durchaus auch Lager- oder Veranstaltungsräume sein, die aktuell nicht genutzt werden. Schließlich sollten im dritten Schritt die Bildungs- und Lehrpläne von Kitas und Schulen für das kommende Jahr angepasst werden, auch auf Basis erster wissenschaftlicher Evaluierungen des Lernens von zu Hause. Denn das Thema hat sich ganz sicher nicht mit dem Ende des laufenden Schuljahres erledigt, sondern wird uns noch länger begleiten.