Ein Restaurant, das geschlossen hat. Ein Großhändler, der auf Ware sitzt. Und Arme, die hungern. In Berlin durchbricht ein Lokal diesen Kreislauf im Schatten von Corona.
Wie die Natur alles Menschengemachte zurückdrängt, wo Vögel ihre Nester niedriger bauen und es in die verwaiste Berliner Yorckstraße hinein trillert und singt, fällt der knallrote Fiat-Kastenwagen sofort auf. Langsam rollt er heran, als wollte er die Vormittagsstille nicht stören. Aus ihm steigt ein Mann.
Es ist Tag 15 des hauptstädtischen Shutdowns, nebenan liegt verschlossen das „Café Wirtschaftswunder", und das Yorck-Kino verkündet in schwarzen Lettern auf weißem Grund „1. Pause seit 1977". Vor der katholischen Kirche kniet eine Frau am Gitter, die Hände gefaltet. Einzig geöffnet hat hier „Bestattungen Heimkehr", schließlich offeriert man „Überführungen In- und Ausland" sowie „Erledigung sämtlicher Formalitäten".
Und dann ist da dieser Duft. Er strömt aus jenem Raum neben der Kirche, in den der Mann Kisten mit Lebensmitteln aus seinem Van trägt. Er legt sich auf die Blüten der Bäume mit einer Melange aus Zwiebeln und Gelbwurz, aus Olivenöl und Salz. Natürlich hat das Restaurant „Kreuzberger Himmel" an diesem Tag wie alle anderen geschlossen.
Dennoch steht die Tür weit offen und Köchin Layali Jafar am Herd, brät Gemüse an, für Kabsa – ein Reisgericht von der Arabischen Halbinsel. „Die Portionen werden wir im Nu los", sagt sie. Ein erfolgreiches Take-away in Zeiten der Gastrokrise? Nein, die Abnehmer der Kabsa sind arme und wohnungslose Berliner, die arabische Spezialität wird kostenlos ausgeteilt, an den Hotspots des Hauptstadtelends. Jafar, 40, die vor drei Jahren nach Deutschland flüchtete, wechselt das Paar schwarzer Handschuhe. „Wir wissen, wann man Hilfe braucht, wir erhielten selbst viel. Nun geben wir etwas zurück."
Der „Kreuzberger Himmel" ist eine Erfolgsstory, die sich trotz Corona weiterschreiben will. 2017 gegründet und von Geflohenen betrieben, bietet es syrische Spezialitäten und hat die Umsätze in den vergangenen beiden Jahren verdoppelt; an den Wochenenden sind die Tische durchgängig reserviert. Jafar, die vor ihrer Flucht in Bagdad einen Cateringservice für Hochzeiten und Geburtstagsfeiern innehatte, versteht ihr Fach wie Othman Achiti, der neben ihr den Reis wäscht, insgesamt zehnmal das Wasser wechselt. „Sonst kommt der Basmatigeschmack nicht durch", sagt er.
In Damaskus führte er ein Restaurant mit 25 Mitarbeitern. In Berlin angekommen, besinnen sich beide auf gehobene arabische Kost, unterstützt von Geflohenen aus fünf Nationen. Ein Team, das nun in Kurzarbeit ist und nicht auseinanderfallen will. „In einer Krise darf man nicht die Hände in den Schoß legen", sagt Achiti, „sonst wären wir dem Krieg gar nicht erst entflohen. Also kochen wir weiter."
Ehemalige Flüchtlinge wollen etwas zurückgeben
Das Restaurant ins Leben gerufen hat der Verein Be an Angel, ein Zusammenschluss von Bürgern, die 2015 auf das Verwaltungschaos der Berliner Behörden reagierten, indem sie Geflohene in den eigenen Wohnungen aufnahmen. Das Engagement wuchs. Ausbildungen werden vermittelt, Netzwerke geschaffen – praktische Flüchtlingshilfe, die beim Ankommen unterstützt. Bald wurden die Spenden weniger, andere Geldquellen mussten her: Es war die Geburtsstunde des „Kreuzberger Himmel".
Von draußen schaut Andreas Tölke vom Verein ins Restaurantinnere aus hellbraunen Steinwänden, dunkelbraunen Tischen und tiefhängenden Lampen mit gelbbraunem Licht. „Im März waren wir noch voll besucht", sagt er. Mit Krisenmanagement kenne sich der Verein aus. „Da fragten wir uns: Wo wird Essen gebraucht?" Rasch erfuhren die Mitglieder, dass durch die Corona-Krise auch manche Hilfe für die sozial Marginalisierten, Bettler und Obdachlosen zurückgefahren ist – dass Hunger herrscht. „Wir springen halt ein." Mit dem Zutatenlieferanten, einem Großhändler, einigte man sich darauf, dass er dem Restaurant für die spontane Armenspeisung Nahrungsmittel kurz vorm Verfallsdatum kostenlos und andere zum Einkaufspreis überlässt.
Und Zeit haben sie ja im „Kreuzberger Himmel." Es ist ein Kreislauf, von dem alle profitieren: Der Lebensmittelhändler wird seine Ware los, das Restaurantteam bleibt zusammen, wer hungert, kriegt gutes Essen. 480 Portionen wurden in der ersten Woche ausgeliefert, der Bedarf steigt.
Der Reis ist nun sauber, Achiti lässt ihn in kochende Brühe gleiten. Dann macht er ein Selfie von sich in Handschuhen und Kopfbedeckung: „Ich bin ein Arzt", scherzt er. Jafar zieht die Augenbrauen hoch. „Herr Doktor, achte aber auch aufs Gemüse!" Sie checkt die Würze. „Noch mehr Salz." Vor drei Jahren noch hatte sie Salz verflucht. Sie und ihr 13-jähriger Sohn packten für die Flucht, aber ihr Mann hatte sich den rechten Arm und Teile des Gesichts bei einem Bombenangriff verbrannt, mit den frischen Wunden konnte er nicht die Schlauchbootfahrt übers Mittelmeer wagen. „Fünf Stunden dauerte die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland. Mein Sohn fragte: ‚Warum gibt es keinen anderen Weg?‘" Heute arbeitet er als Azubi in einer Zahnarztpraxis, und für Jafars Mann tat sich auch ein Weg auf: Über Familienzusammenführung kam er vor eineinhalb Jahren mit dem Flugzeug nach Berlin. Mit einem Ruck schiebt sie jede der Platten mit Reis, Gemüse und Fleisch in den Thermobehälter. „Ab zum Ostbahnhof damit."
Es ist 13 Uhr. Nicht einmal die Züge hört man im Hintergrund der Station, als der rote Fiat parkt. Alles wirkt wie angehalten. Der Fahrer, Yousef Schreiber vom Verein Be an Angel, steigt aus und nickt Ghayth Nashed kurz zu. Die Platten mit dem Essen tragen sie zu Nasheds weißem Anhänger hinter einem Astra Variant. Auf Neudeutsch: ein Foodtruck. „Bab al-Jinan – Streetfood & Catering from Aleppo" steht darauf geschrieben. Schnell eine rotweiße Kette vom Heckscheinwerfer zu zwei Pylonen gespannt, fertig ist der Corona-Sicherheitsabstand für die Essensausgabe aus dem Truck.
Kaum aufgemacht warten 15 Personen
Sofort stellen sich 15 Leute an, es warten bald mehr. „Kann ich zwei Portionen haben? Meine Freundin ist noch unterwegs", fragt einer. „Kann ich doppelt kriegen, gleich für die Nacht?", bittet ein anderer. Schreiber und Nashed geben aus, lächeln und plaudern kurz mit ihnen; es sind ja ihre Gäste. „Man muss ja etwas machen", sagt Nashed nebenbei, er wird es binnen der kommenden zwei Stunden noch zweimal sagen.
Er und Schreiber sind Mitte 30, flüchteten 2015 aus dem syrischen Aleppo, dieser uralten Stadt aus vorbiblischer Zeit. Im jungen Berlin lernten sie sich erst vor ein paar Tagen kennen: Seit zwei Jahren betreibt Nashed den Foodtruck, beim Businessplan unterstützte ihn Andreas Tölke von Be an Angel, in dem Schreiber angestellt ist. „Zwischen Mai und September sind wir jeden Tag unterwegs", sagt Nashed. Die syrische Feinkost kommt an. Corona machte seinen Touren zu Streetfood-Festen, Feiern und Firmenlunches einen Strich durch die Rechnung – der Anfrage vom „Kreuzberger Himmel", das Essen zu verteilen, kam er sofort nach. „Zu tun gibt es immer was", sagt er.
In Aleppo hatte er Wirtschaftsinformatik studiert, ist nun sein eigener Foodtruck-Unternehmer. „Es ist zwar eine schwierige Zeit, aber von unserer Erfahrung her ist es normal. Es gibt im Leben Ups und Downs. Wir hatten viele Downs." Schreiber ergänzt: „Nun geben wir Essen – und ein wenig Zuversicht."
Ein Mann, 62, nimmt seine Portion. Die Rippen zeichnen ihr Muster durchs Shirt. „Es liegt alles brach", sagt er. Die Bibliotheken seien geschlossen, dabei nutze er dort das Internet, „und in den Behörden erreiche ich niemanden". Dabei sei seine „Maßnahme" vom Jobcenter nun weggebrochen, „ich hab noch meine Wohnung, sonst nichts". Zum Ostbahnhof zum Foodtruck kommt er nun jeden Tag, „da kriege ich sonst nichts zu essen". Seinen Namen nennt er nicht, „seit der Wende bin ich anonym, hab‘ zu viel Mist erlebt."
Neben ihm stellt sich ein junger Mann vor und erzählt von seinem Traum. „Ich werde Frau und Kind haben und vorher das Heroin aus meinem Körper kriegen, meine eigenen Glückshormone produzieren"; die Sucht hatte das dem Opiat übertragen. Sebastian Link ordnet gerade sein Leben neu: Seit einem Jahr und drei Monaten nimmt er das ärztlich verordnete Methadon als Ersatzmittel, „nun muss ich nicht mehr klauen gehen." Seit drei Wochen ist er in betreutem Wohnen. Die Mutter starb mit 17, sein Vater mit 32 am Alkohol, „ich bin jetzt so alt, wie er wurde". Das vergangene Jahr sei hart gewesen, Essen aus der Mülltonne, „aber ich bin dankbar, habe Leute getroffen, denen es noch schlechter ging als mir". Nun gehe es wieder für ihn voran, er kriegt Hartz IV. Eigentlich, „der Leistungsbezug ist unterbrochen, die haben irgendwelche Probleme, und ich komme nur in die Warteschleife". Aber es gebe das Essen vom Foodtruck. „Ich kenne das, bin in Neukölln aufgewachsen und hatte arabische Freunde." Lange her sei das. Da wolle er wieder hin.
Am Ende ist nur noch ein wenig Reis übrig. Schreiber kratzt ihn aus der Platte, reicht eine letzte Portion. Wie lange sie noch täglich Essen ausfahren werden, ist ungewiss; die Kosten übernimmt ja keiner, und Einnahmen außer Privatspenden gibt es nicht. Egal. Morgen ist auch ein Tag. Er nimmt den Mundschutz ab und streift die Handschuhe von den Fingern. „Morgen, gleiche Zeit", ruft er den Leuten zu. Dann startet der Fiat, er fährt an und die Schillingbrücke hoch über die Spree gen Kreuzberger Himmel.