Wegen des Nordirlandkonflikts lange weit abseits der Touristenziele, bescherte der Titel „Kulturhauptstadt 2013" Derry über eine Million Besucher. Die viertgrößte Stadt der irischen Insel punktet mit viel Kultur, offenen Einwohnern und einer spannenden Geschichte.
Marlborough Street?", fragt der Taxifahrer, zieht die buschigen Augenbrauen nach oben und gibt Gas. Die Straße liegt im katholischen Arbeiterviertel Bogside, der Geburtsstätte der „Troubles" 1969. Der Ulster-Scots-Akzent des Fahrers verrät, dass er Protestant ist. Der Bogside bleibt er lieber fern. In dem hügeligen Viertel ist es so friedlich, dass man sich den drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg, der hier am schlimmsten tobte, kaum mehr vorstellen kann. „The People’s Gallery", zwölf monumentale Gemälde des Künstlertrios Bogside Artists an Hauswänden der Rossville Street zeigen Szenen der Straßenkämpfe und gehören heute zu den beliebtesten Touristenattraktionen der Stadt. Die Interpretation der Wandgemälde ist Teil einer Tour, die frühere IRA-Mitglieder zu den Schauplätzen der „Troubles" anbieten.
Dort, wo sich am 30. Januar 1972 die dramatischsten Szenen des Konflikts abspielten, steht heute das preisgekrönte Museum of Free Derry. Die spannende multimediale Ausstellung ist der nordirischen Bürgerrechtsbewegung, dem „Bloody Sunday" und der „Battle of the Bogside" gewidmet. Der Konflikt reicht Jahrhunderte zurück. Wie die Unterdrückung der Iren durch die Briten im Norden der Insel begann, zeigt die Dauerausstellung „Plantation of Ulster" in der imposanten Guildhall (Rathaus) im Zentrum. Die Ansiedlung protestantischer Engländer und Schotten (1603 – 1690) in der Provinz Ulster ist als eine der Hauptursachen für den Nordirlandkonflikt in die Geschichte eingegangen. Während der Ansiedlung bauten die Engländer eine 1,5 Kilometer lange und acht Meter hohe Stadtmauer, um sich vor Angriffen rebellischer Iren zu schützen. Die neun Meter breite Mauer, die 2020 ihren 400. Geburtstag feiert, ist Promenade für Jogger, Picknicker und Spaziergänger und bietet einen fantastischen Blick auf die gegenüberliegende Bogside. Entlang der Mauer befinden sich sieben Tore und 24 restaurierte Kanonen.
1,5 Kilometer lange Stadtmauer
Besonders groß ist der ummauerte Innenstadtbereich „Walled City" nicht, in dem längst keine Protestanten mehr wohnen. Zentraler Platz des lebhaften Viertels ist „The Diamond". In den Straßen ringsum liegen zahlreiche Cafés, Kneipen, Restaurants, Shops, die IRA-Memorabilia verkaufen und Devotionalienläden. In einem Schaufenster steht Jesus in wallender grüner Robe. Jesus in Grün? „He’s Irish!", sagt ein Vorübergehender augenzwinkernd. Von einem Wandgemälde lächeln die vier „Derry Girls" Clare, Erin, Michelle und Orla aus der gleichnamigen nordirischen Fernsehserie. Gerade wird die dritte Staffel der Serie gedreht, die auf humorvolle Weise das Alltagsleben einer Teenagergruppe aus der Bogside während der letzten Jahre vor dem Waffenstillstand zeigt. Eine Schar Möwen fliegt mit gellendem Geschrei im Tiefflug an den Derry Girls vorbei. Das Gekreische der Seevögel gehört zur vertrauten Akustik, denn das Meer ist nicht weit. Sie fliegen Richtung Peace Bridge. Die geschwungene Brücke über den River Foyle, welche die von Katholiken bewohnte Cityside mit der von Protestanten bewohnten Waterside verbindet, wurde 2011 als ein Symbol für das Zusammenwachsen der Stadt gebaut. Mehr als zehn Jahre nach dem Friedensabkommen von 1998 sollte sie ein abschließender Schritt in Richtung vereinigte Stadt sein. Das ist bis heute nicht ganz gelungen. Der Versuch, Kinder beider Konfessionen in Integrationsschulen zusammenzubringen, ist gescheitert – weiterhin besuchen 93 Prozent der Schüler getrennte Schulen. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr haben Kinder und Jugendliche kaum Kontakte, geschweige denn Freundschaften mit Gleichgesinnten der „anderen Seite". Religion spielt dabei die geringste Rolle. Hinter der Segregation steht der Identitäts- und Machtkampf zwischen den irisch-nationalistischen Katholiken und den englisch- und schottischstämmigen unionistischen Protestanten. Die beiden großen Parteien, die protestantisch-probritische DUP und die katholisch-republikanische Sinn Féin sind zerstritten, der Brexit-Wirrwarr tut sein Übriges. Touristen bekommen von alledem nichts mit. Die Einwohner sind Besuchern gegenüber offen und herzlich. Wie gespalten die Stadt ist, zeigt sich im Namen. Die Protestanten nennen sie Londonderry, die Katholiken Derry, wie sie bis zur Eroberung durch die Engländer hieß. Nach jahrelangem Streit einigte man sich auf die Schreibweise Derry~Londonderry, wobei das Präfix „London" immer wieder übersprüht wird. Dem geschwungenen Bindestrich zwischen den Namen verdankt Derry den Spitznamen „Stroke City".
In den katholischen Vierteln grüßt an vielen Häusern und Kneipen die grün-weiß-orange gestreifte Flagge der Republik Irland, im protestantischen Ostteil weht der britische Union Jack. Trotz all ihrer Gespaltenheit haben beide Seiten ein gemeinsames Ärgernis: den Brexit. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Brücke als Symbol der Verbindung
Mit über 75 Prozent Katholiken ist Derry eine Hochburg der Nationalisten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Stadt eine der reichsten im Vereinigten Königreich. Mit Tillie & Henderson entstand 1851 in der Foyle Road die erste und größte Hemdenfabrik der Welt. Karl Marx erwähnt sie in seinem Monumentalwerk „Das Kapital" als Beispiel kapitalistischer Ausbeutung. Um die Jahrhundertwende produzierten 44 Textilfabriken in Derry über zehn Millionen Hemden im Jahr. Heute gibt es nur noch die kleine Manufaktur Smyth & Gibson, die von Hand genähte Hemden herstellt. Seit über hundert Jahren wird jährlich traditionell ein Hemd ans Weiße Haus in Washington geliefert, das der jeweilige Präsident der Vereinigten Staaten bei seiner Rede zur Lage der Nation trägt.
„Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldeten sich die Söhne der Fabrikanten freiwillig an die Front und kamen nicht lebend zurück. So gut wie alle Unternehmerfamilien verloren ihre Nachfolgegeneration. Dann kam 1921/22 die Teilung des Landes – die Grenze wurde mitten durch Derry gezogen. Die Fabrikanten schlossen ihre Betriebe, gingen nach Belfast oder England und kamen nicht wieder. Mit ihnen ging der Wohlstand, zurück blieb die Arbeiterklasse. Im nun geteilten Land gingen die wenigen Jobs, die es noch gab, an Protestanten", erzählt Gavin Killeen, Geschäftsführer der Firma Nuprint, die Etiketten für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie in Nordirland und der EU herstellt.
Debatte um Wiedervereinigung
Als im Juli 2010 bekannt wurde, dass Derry zur ersten britischen Kulturhauptstadt 2013 ernannt worden war, erfuhr das Stadtzentrum in den Jahren bis zum Titel eine umfangreiche Verschönerung. Die Guildhall wurde renoviert, die Friedensbrücke gebaut und der Shipquay Place in der Altstadt mit Brunnen ausgestattet. Musik- und Kunstfestivals wurden ins Leben gerufen, die bis heute jährlich stattfinden. Vom Etikett Kulturhauptstadt versprach sich Derry hohe Besucherzahlen und wirtschaftliches Wachstum. Die Besucher kamen, das erhoffte Wirtschaftswachstum blieb aus. Und nun steht der Brexit vor der Tür. Viele fürchten eine harte Grenze. Kleinere Betriebe haben bereits mit dem Umzug in die angrenzende Grafschaft Donegal in der Republik Irland begonnen. „Das Vereinigte Königreich erhält nach dem Brexit den Status eines Drittstaates. Für den Handel gelten dann die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Für Firmen in Derry würde das bedeuten: EU-Zölle, Ausfuhrabfertigungen, Einfuhranmeldungen. Eine schnelle Lieferung wäre somit nicht mehr garantiert. Die Kunden in der Republik würden das nicht lange mitmachen und alternative Ressourcen in der EU finden", erklärt Gavin Killeen, der im Worst-Case-Szenario seine Firma über die Grenze verlegen will. „Ich erinnere mich noch an die Zeit während der Troubles, als ich wegen der Grenzkontrollen 15 Meilen fahren musste, um meine Großmutter zu besuchen, die eigentlich nur ein paar Straßen weiter wohnte. Und jetzt sollen wir zu den alten Zuständen zurück, nur weil ein paar Irre in London beschlossen haben, die EU zu verlassen? Das macht mich rasend", schimpft Taxifahrer Seán und haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad. „Reunite Ireland" steht auf einem Aufkleber am Armaturenbrett. Der Brexit hat die Debatte um die Wiedervereinigung Irlands wie nie zuvor entfacht.