Für die Deutschen findet der Sommerurlaub 2020 unter anderen Vorzeichen statt. Der Volkskundler Wolfgang Kaschuba spricht im Interview über die Entdeckung der Nahwelt, Preisentwicklungen und die Frage, ob wir jemals wieder Urlaub so machen werden, wie wir es aus Vor-Corona-Zeiten gewöhnt waren.
Herr Kaschuba, warum trifft es die Deutschen besonders hart, wenn sie in diesem Jahr nicht so reisen dürfen wie gewohnt? Die Gründe liegen doch sicher tiefer als die Tatsache, dass die Deutschen eigentlich die Reiseweltmeister sind.
Die Deutschen lernten schon ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert von Goethe bis Thomas Mann, wie fremde Orte und fremde Landschaften aussehen. Diese Entwicklung, dass also durch Literatur, Malerei und später auch den Film eine attraktive Welturlaubskulisse dargestellt worden ist, ist stärker ausgeprägt als in vielen Nachbarländern. Deswegen entsteht sehr früh ein Auslandstourismus, der andere Gesellschaften nicht so prägt. Dass die Deutschen statistisch belegbar Urlaubs- und Reiseweltmeister sind, hat aber auch mit der spezifischen geografischen Mittellage in Europa zu tun. Wenn heute der Urlaub wegfällt, weil durch vorgenommene Urlaube, Homeoffice und andere Dinge die finanziellen Ressourcen erschöpft sind, fällt ein emotionaler Höhepunkt im Jahr weg, der für viele Menschen in Deutschland wichtiger ist als das christliche Weihnachtsfest. Das greift schon sehr stark in den Gefühlshaushalt der Gesellschaft ein, weil der Rhythmus gestört wird. Der deutsche Pass ist ein Passepartout für die Welt im buchstäblichen Sinne. Und jetzt kommen Erfahrungen, die Gewohnheiten verhindern, die einem lieb und wert geworden sind.
Was bedeutet das für uns als routiniertes Urlaubswesen?
Wenn vielleicht zehn Millionen Familienurlaube gecancelt werden, umdisponiert werden, von Portugal in den Bayerischen Wald verlegt werden, dann wird der Urlaub unter ganz anderen Bedingungen stattfinden. Jetzt tritt eine kollektive Urlaubsortsuche auf, das hat es in der Form noch nie gegeben. Vorher haben Marktmechanismen gegriffen, jetzt brechen diese Muster weg. Der Urlaub ist deshalb einer der großen Paradigmenwechsel, die wir jetzt haben, weil wir eben nicht das tun können, was wir immer getan haben. Jetzt müssen wir improvisieren, kreativ sein. Dieses Sich-selber-neu-Erfinden als Urlaubswesen, das finde ich im Moment die spannende Aufgabe. Der Homo touristicus wird sich neu erfinden müssen. Wir beobachten Verbitterung und Verzweiflung, einen Einbruch an Erwartungen, nicht nur bei den Familien, sondern auch bei den Hoteliers und den Restaurantbetreibern, in der ganzen Tourismusbranche, an der zum Beispiel allein in Berlin-Kreuzberg 20.000 Arbeitsplätze hängen.
Was bedeutet diese Kreativität? Wie können die Einzelnen, zum Beispiel Familien mit Kindern, das Beste daraus machen, wenn es in diesem Jahr mal nicht nach Portugal oder gar Bali geht? An Fernreisen ist kaum zu denken.
Eine interessante Frage ist, wie kompromissfähig wir in unseren Wünschen und Bedürfnissen werden. Die gemeinsame Planung, die Überlegung, sich auf bestimmte Dinge zu freuen – das funktioniert auch unabhängig vom Urlaubsziel. Weiterhin bietet der Urlaub für die Familienmitglieder die Möglichkeit, eine andere Rolle zu spielen, Eltern können ihren Kindern mehr Zeit zuwenden. Eine Gestaltungsmöglichkeit ist jetzt das, was wir die Exotisierung der Nahwelt nennen – also ein bisschen die Lupe aufklappen. Im 18. Jahrhundert hat ein Franzose das Modell der Zimmerreise entdeckt. Er wurde zu 14 Tagen Hausarrest verurteilt und hat dann sein Zimmer als große Weltlandschaft entdeckt, und die Spinne in der Ecke genauer betrachtet oder die Holzstrukturen im Boden. Durch die Verlangsamung, durch die geringere Mobilität in der Corona-Zeit wird auch unsere Nahwelt größer und bestenfalls interessanter. Wir werden nicht primär von der dramatischen Landschaft, von der Sonne und vom Meer unterhalten, sondern wir unterhalten uns selber auch in einer weniger dramatischen Landschaft.
Wie schaffen die Menschen das konkret für ihren Sommerurlaub 2020, es sich in dieser Nahwelt einzurichten?
Ich beobachte, dass im Inland ein neues Muster des Aktivurlaubs entsteht, mit dem Eltern versuchen, ihre Kinder zu motivieren. Sie unternehmen Fahrradtouren durch die Stadt, durch Parks, durch die Nahregion, oder sie unternehmen Wanderungen, machen Schatzsuchen. Es geht im Grunde darum, sich zu aktivieren, nicht mehr darum, sich passiv an den Strand zu legen. Das wird im Übrigen auch den Reisemarkt verändern. Die Angebote von Rad bis Kayak, vom Wandern bis zum Bauernhof werden jetzt sicher von den Gästen mehr als sonst goutiert werden. Und ein bisschen Retrokultur wird es geben, etwas von der Urlaubskultur der 50er-Jahre. Nehmen Sie den Urlaub auf dem Bauernhof: Man sagt sich wieder: Na, okay. Gesunde Umwelt, viel frische Luft, das genügt. Und dann bieten solche Urlaubsformen ja auch besser die Möglichkeit, Abstand zu Anderen zu halten. Man hat in der Regel nicht die enge Wohnsituation wie in Hotels.
Wenn die Eltern zu Animateuren werden, bleibt womöglich die Entspannung auf der Strecke. Oder gilt anders herum, dass auch Stress und sozialer Druck entfallen nach dem Motto „Vor Corona sind alle gleich", Regelungen und Kontrollen gelten ja für alle.
Wenn das richtig ist, dass aktivere Muster gesucht werden, dann wird darin die neue Form der Entspannung liegen. Dieses Irgendwohin-Fliegen, am Strand sein Handtuch ausrollen und Luft rauslassen bei sich selber, das gibt es so nicht mehr. Und damit spielen Statusurlaube – je weiter die Entfernung, desto teurer die Reise, umso exklusiver – eine geringere Rolle. Dabei reden wir nicht von den oberen Zehntausend, die alle Grenzen umfliegen und alles umgehen können. Es ist interessanterweise weder bekannt, wie viele Privatjets wir in Deutschland haben, noch ist eine Regelung da, dass diese Schicht nicht reisen darf: Man behauptet einfach, eine Geschäftsreise zu unternehmen nach Monaco oder anderswohin, und dann wird das schon. Doch unterhalb dieser exklusiven Schicht führen die Corona-Folgen zu einer stärkeren Gleichmacherei. Wir haben es mit einer Vermassung der Urlaubsformen zu tun: Vorher war immer der Horizont die Welt, und jetzt ist es auf merkwürdige Art für sehr viele Menschen wieder ein nationaler Horizont.
Ein Horizont, der notgedrungen schon mal am Gartenzaun endet. Kann das Zuhausebleiben auch entspannen? Schließlich muss man auch nichts planen, packen, der Reisestress entfällt, man hat in budgetschwachen Zeiten weniger Kosten.
Möglicherweise. Ob diese Art der Entspannung möglich ist, ist immer eine Frage der Erwartungshorizonte, wie sich vor allem Familien mit Kindern darauf einlassen können. Aber ich glaube, viele werden dazu verurteilt sein. Interessanterweise ist der Absatz an Strandkörben in den Baumärkten stark angestiegen, ein Indiz. Viele Leute sagen sich offenbar: Wenn schon nicht am Strand, habe ich wenigstens einen im Garten. Dann machen wir eben Urlaub auf Balkonien oder im Garten.
Sie sprachen von Vermassung – ein Wort, das schon in Vor-Corona-Zeiten für viele Urlauber nicht gerade verlockend klang. Nun ist es ein Begriff, auf den viele aus Angst vor Ansteckung allergisch reagieren dürften. Das birgt Konfliktpotenzial.
Es wird zum Teil sehr voll, man kann sich vorstellen, wie überfüllt die Nordsee- und die Ostseeküste sein werden. Wenn der Binnentourismus deutlich ansteigt, wird die Frage umso drängender, wie man Distanz halten kann. Eine Distanz, die viele, die sich nicht mit dem Massenpublikum vereinen wollen, ja auch gewohnt sind, indem sie sich exklusivere Bereiche sichern. Also: Ich sehe kleine Konflikte, die sich um die Nutzung der Urlaubsfläche etwa am Strand drehen – die deutsche Urlaubsgesellschaft hat ja große Erfahrungen im Abgrenzen, im Handtuchmarkieren – aber auch große Konflikte, die sich um die Nutzung der Ressourcen drehen. Zwar ist die Logistik einfacher, wenn man das Auto vollpackt und an die Ostsee fährt. Aber dort dann tatsächlich ein Zimmer für die Familie zu finden, kann wahrscheinlich genauso stressig werden wie eine Weltreise.
Das hört sich nach steigenden Preisen an.
Eine Tendenz wird sicherlich sein, dass die Urlaubsregionen Pakete verkaufen. Zum Beispiel, dass man am Nord- oder Ostseestrand zusätzlich zur Unterkunft gleich einen Strandkorb mitmieten muss – als Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt einen Platz bekomme. Wenn so verfahren wird, steigen die Preise. Für die Urlaubsregionen ist das nebenbei ein Weg, die zahlungskräftige Mittelschicht anzulocken. Das würde andererseits aber teurer als es sich viele Familien leisten können. Und dann werden viele verzichten müssen, wenn weiterhin der Markt alles regelt. Die zentrale Frage ist, ob Urlaubsregionen hier regulierend eingreifen sollten.
Wenn Sie einen Blick in die Glaskugel werfen, welche Veränderungen im Tourismus sehen Sie langfristig?
Wir sind derzeit in einer Erprobungsphase, in der niemand sagen kann, wie sich die Situation entwickelt. Wenn es bisher Probleme mit Mobilität und Urlaub gab, dann waren das die Umstände, die Regionen, also die Dinge außerhalb von uns, jetzt sind wir die Gefahr. Wir tragen das Virus in uns. Wie wir damit umgehen, das ist eine hochinteressante Frage. Wir akzeptieren Verkehrstote, wir akzeptieren normale Grippetote, wir akzeptieren Krebstote. Wenn sich Corona einreiht in dieses Normalepidemische, dann haben wir eine Chance, dass wir zu unseren gewohnten Mobilitäts- und Urlaubsvorstellungen zurückkommen. Passiert das aber nicht bis spätestens ins nächste Jahr hinein, wird sich dramatisch etwas verändern. Wir werden dann sehen, wie Infrastrukturen, die vom Urlaub getragen wurden, massenhaft in sich zusammenbrechen – von den Fluggesellschaften bis zu den Unterkünften. Das betrifft Länder wie Österreich oder Griechenland, aber auch Stadtgesellschaften wie Barcelona oder Berlin, die allesamt stark vom Tourismus abhängen. Wir haben im Moment kein Szenario, wie unter völlig veränderten wirtschaftlichen Bedingungen Stadtplanung, Lebensplanung und Urlaubsplanung vor sich gehen wird. Wenn alles gut ausgeht, lernen wir etwas, und die Gesellschaften werden sich ein wenig verändern. Ich bin da begrenzt optimistisch, aber optimistisch.