Bernhard Wache hat eine Technik entwickelt, mit der er große Strecken im und unter Wasser zurücklegen kann. Seine Seatrekking-Touren sind nur was für Abenteurer. FORUM-Autor Martin Theis hat sich mit ihm in die kroatische Adria getraut.
Als mich allmählich die Kraft verlässt, bin ich noch lange nicht am Ziel. Ich schwimme gegen die Strömung des Meeres an, entlang einer kroatischen Inselküste. Rechts von mir: blaue Weite bis zum Horizont. Links von mir: löchrige Kalksteinfelsen, die das Meer über die Jahrtausende scharfgeschliffen hat. Meine Hände sind schon zerschnitten von den Versuchen, daran im starken Wellengang Rast zu finden. Es bleibt nur der Weg nach vorn. Unter Wasser wiegt das Seegras hin und her, ein beruhigender Rhythmus angesichts meines Kampfes. Um Kraft zu sparen, muss ich die Flossen gleichmäßig durch das Wasser treiben. Bloß nichts durch den Schnorchel schlucken. Keine Panik.
20 Minuten später erreiche ich den abgelegenen Steinstrand, den wir uns vorher auf der Karte als Ziel gesetzt hatten. Bernhard Wache steht in seinem Neoprenanzug schon dort, die Taucherbrille auf die Stirn geschoben. Hinter ihm wachsen Granatapfel- und Feigenbäume am Fuße steiler Felsen, die diese Bucht vom Land aus unerreichbar machen. Ich krieche ans Ufer, meine Glieder zittern. „Da haben zwei Kilometer schon gereicht, dass Du eine existenzielle Erfahrung machst", sagt Bernhard lächelnd, mit seinem zarten bayrischen Akzent. Ich schlafe vor seinen Füßen ein.
Bernhard Wache ist 47 Jahre alt, wirkt aber mindestens zehn Jahre jünger. Das habe der Ozean mit ihm gemacht, sagt er. Sein Element, seine große Sehnsucht, der er folgt, wann immer er kann. Diesmal hat er mich und den Fotografen Meiko mitgenommen in seine Welt, zum Seatrekking, wie er es nennt. Bernhard und die weltweit etwa 50 anderen Seatrekker zieht es an die einsamen Küsten dieser Welt, von Thailand bis Teneriffa, wo sie mit Karbonflossen, Neoprenanzug, Taucherbrille und Schnorchel tagelang Dutzende Kilometer zurücklegen und in der Wildnis biwakieren. Auf ihren Trails möchten sie eins werden mit der Unterwasserwelt, die sie mit fließenden Bewegungen durchströmen.
Wir treffen Bernhard einen Tag vor unserem gemeinsamen Aufbruch, im kroatischen Bergdorf Beli, auf der Insel Cres. Er ist ein Alien unter den Touristen aus Deutschland und Österreich, die hier Urlaub von ihrem geregelten Leben machen. Bernhard, der sonst als Künstler in München mit Glas und Licht experimentiert, ist ein Getriebener. Sein Glück wartet da draußen, fernab von Strandbars und Ferienhotels. Es liegt im Meer, das die meisten seiner Artgenossen nur oberflächlich kennen, in 15, 20 Meter Tiefe vielleicht – in dem Gefühl, schwerelos durch die Unendlichkeit zu gleiten. Dieses Glück, sagt er, lässt sich nicht mit einer Kreditkarte kaufen. Bernhard ist besessen vom Ozean. Er selbst hat die Bewegung des Seatrekkings mit Anfang 20 für sich entdeckt und seitdem weiterentwickelt. Seine Inspiration waren die anderen wasserliebenden Säuger, wie Otter, Robben und Delfine. Er wollte die üblichen Routinen durchbrechen, mit denen sich der Mensch im Meer bewegt: Entweder horizontal, beim Schwimmen oder Kajakfahren – oder vertikal, beim Apnoe- oder Tiefseetauchen. Seatrekking ist die Verbindung von Weite und Tiefe, von Schnorcheln, Freitauchen und Streckemachen unter der Wasseroberfläche. Bernhard streckt im Wasser die Arme nach vorn, die Hände dabei flach aufeinandergelegt, und vollführt mit dem Körper eine Wellenbewegung von den Fingerspitzen bis zum Flossenende.
Verbindung von Weite und Tiefe, Schnorcheln und Freitauchen
Auf einer Karte erklärt uns Bernhard die Route für unseren Trip abseits der Zivilisation. Dann packen wir die Ausrüstung, Trinkwasser und Essen für vier Tage in die riesigen Rucksäcke, die er selbst entwickelt hat. Sie sind wasser- und luftdicht, außerdem aufblasbar, damit wir sie später im Wasser an elastischen Seilen hinter uns her ziehen können. Wenn sie schwimmen, bemerkt man die 25 Kilo kaum. Doch wir müssen sie erstmal sechs, sieben Kilometer durch die zerklüftete kroatische Felslandschaft schleppen, aus der sich trockene Büsche und knorrige Bäume trotzig erheben. „Wenn Du dich in der freien Natur bewegst, musst Du immer auch etwas geben", sagt Bernhard. „Sonst macht sie dich fertig." Es duftet nach wilden Kräutern, nach Salbei, Lavendel und Thymian. Wir wandern auf den alten Bergpfaden der Schäfer, die ihre Tiere einst hier entlang trieben. Kein Mensch weit und breit, nur manches zottelige Schaf streift einsam durch die Wälder. Im Sonnenuntergang erreichen wir einen Strand.
Eine Gruppe betrunken palavernder Österreicher, die mit einem Luxusmietboot in der Bucht ankert und jetzt 20 Meter von uns entfernt grob fahrlässig ein Lagerfeuer anzündet, stört eigentlich kaum. Wir sind ohnehin in verschiedenen Welten unterwegs. Denn was praktisch sofort passiert, wenn Du nur das Nötigste mitgenommen hast und nassgeschwitzt und ausgepowert am Strand ankommst, nach einem dreieinhalbstündigen Hitzemarsch: Die kleinen Dinge werden großartig. Das eine und einzige lauwarme Bier, das wir jetzt teilen; das über dem Kocher zusammengerührte Porridge mit Honig, Rosinen und Nüssen; die salzige Brise vom Meer her und Millionen Sterne am Himmel. Das alles, so unser aufrichtiges, gemeinsames Gefühl in dem Moment, ist – völlig klar – der absolute Wahnsinn.
Mit der Morgensonne erwachen die Zikaden, ihr lärmendes Zirpen ist der Soundtrack der Insel Cres. Als ich um 6.43 Uhr auf meiner Luftmatratze in den Himmel blinzle, köchelt neben mir schon ein Blechpott mit Kaffee. Bernhard sitzt daneben, mit einer zierlichen Keramik-Espressotasse mit Blümchen, die nicht recht zur ansonsten strikt funktionalen Outdoorausrüstung passt. „Ich bin nicht so der Survival-Typ, der unbedingt versuchen muss, nur mit einem Messer in der Wildnis zu überleben", sagt er vergnügt. „Aber nur mit einem Messer und so einer Tasse, das könnte ich mir vorstellen." Dann schaut er wieder ins Blaue, als sei er in Gedanken schon irgendwo dort draußen unterwegs.
Der Mensch ist im Meer ja erst einmal ein ziemlicher Depp, in Grazie und Überlebenskompetenz so ziemlich allem unterlegen, was da sonst noch so schwimmt. Die intuitive Bewegung im Ozean haben wir verlernt, zu lange ist es her, dass unsere urzeitlichen Vorfahren an Land krochen, um es sich einige evolutionäre Quantensprünge später Untertan zu machen. Die fließende Bewegung, mit der Bernhard Strecke macht, erfordert eine Menge Übung. Wir sind dabei anfangs so unbeholfen, wie Neuntklässler bei der ersten Tanzstunde.
Der Mensch ist im Meer erst einmal ein ziemlicher Depp
Doch der Meeresmensch übt mit Meiko und mir ganz geduldig in der Bucht. Wir lernen, in der Vorwärtsbewegung abzutauchen, die Nase zuzuhalten und mit geschlossenem Mund Luft von innen in die Ohren zu pressen, um den Wasserdruck ausgleichen. Weil wir in den Neoprenanzügen sonst oben schwimmen würden wie Korken, tragen wir kleine Trinkrucksäcke auf dem Rücken, wie sie Marathonläufer benutzen, allerdings gefüllt mit Steinchen vom Strand.
Seit ich mit zwölf Jahren mal fast im Atlantik ersoffen wäre, weil ich nicht mehr gegen die Strömung ankam, reicht mir seichtes Planschen, um mich eins mit dem Meer zu fühlen. Bernhard aber erweitert im blauen Raum stetig seine Grenzen, seit sein Vater ihn als Knirps ins Salzwasser schob. Auf der italienischen Insel Elba büxte er mit drei Jahren aus, um am Strand Krebse zu jagen und kehrte erst nach Sonnenuntergang zurück zum Campingplatz, wo ihn schon alle panisch suchten. Dort schwamm er als Heranwachsender kilometerweit auf seiner Luftmatratze. Dabei entdeckte er irgendwann für sich selbst den Druckausgleich und übte dann den ganzen Tag Freitauchen in der Bucht. Er merkte, dass das Meer die Kraft hat, Raum und Zeit vergessen zu machen.
Das kroatische Meer ist schon ein bisschen leergefischt, was der meditativen Wirkung aber keinen Abbruch tut. Da unten, bei den Korallen und Seeigeln, bei den Seegurken und dem sich sanft wiegenden Seegras, zwischen gelegentlich dann doch vorbeihuschenden Schwärmen silberner Minifische, im Reich der Taschenkrebse und Rippenquallen, scheint es schon unvorstellbar, dass man da oben bald wieder irgendwelche Termine hat. Hier unten spielt all das, was da oben so selbstverständlich das Leben bestimmt, schlicht keine Rolle. Dieser blaue Wer-bin-ich-eigentlich-wirklich-Raum ist dann auch noch schier endlos, viel größer zumindest als der persönliche Radius oben, der einen aber seltsamerweise doch so stressen kann, als sei er die einzige verfügbare Wirklichkeit. Bernhard, der das alles natürlich schon viel länger weiß, ist zurück in seinem Element. Er durchfließt das Meer, kommt meist nur für einen einzigen Luftzug nach oben, taucht dann wieder ein und macht das fünf, zehn Minuten lang. Immer wieder kommt er bei mir vorbei und checkt, ob alles okay ist. Dann schwebt er wieder im blauen Raum auf 15 Metern Tiefe, oder sinkt hinab auf den Meeresgrund und geht in die Knie wie zum Gebet. Manchmal könne er da unten alles loslassen, hatte Bernhard mir an Land erzählt, ein heilsamer Weg der Selbstaufgabe sei das, brutale Freiheit.
So nötig viele Menschen eine solche Erfahrung womöglich hätten und so gerne Bernhard sie jedem vermittelt, der sie sucht: Seatrekking kann nicht zum Breitensport werden, das Wachstumspotenzial ist natürlich begrenzt. Zum einen wollen Bernhard und seine kleine Community möglichst keine Spuren in der Natur hinterlassen. Zum anderen muss man sich mit der Materie beschäftigen und kann sich nicht einfach blindlings ins Abenteuer stürzen. Ein Seatrekking-Trip durch die Unterwassserwelt, mit Biwakieren in der Natur, gerät eben doch fast immer zu einer existenziellen körperlichen und psychischen Herausforderung – wie ich selbst auf den letzten Metern unserer ersten Etappe merke.
Möglichst keine Spuren in der Natur hinterlassen
Als ich nach dem Endspurt im Meer am Steinstrand liege und langsam wieder zu mir komme, hat Bernhard schon eine Plane gespannt, unter der wir Schutz vor dem aufziehenden Regen finden. Über uns türmen sich Wolken. Meine Erschöpfung weicht allmählich der Euphorie, es geschafft zu haben – und einem übermächtigen Hungergefühl.
Er habe einen Traum, erzählt uns Bernhard später bei einem Teller Spaghetti: einen gigantischen Trail, sein persönlicher Mount Everest. Über den Tiefseegräben zehn Kilometer vor der sri-lankischen Hafenstadt Trincomalee versammeln sich einmal im Jahr die Meeressäuger – Blauwale, Pottwale und Gruppen von hunderten Spinnerdelfinen. Mit einem befreundeten Freitauch-Profi will er dorthin gelangen, drei Tage und zwei Nächte über das offene Meer und nachts abwechselnd schlafen auf einer speziellen, leichten Luftmatte. Sie suchen dafür gerade Sponsoren. „Ich möchte zu den Bewohnern der blauen Wildnis und mit ihnen Zeit verbringen", sagt er „Dort, wo sich die Kräfte des Meeres bündeln."
Dann nimmt Bernhard seine Matte und geht durch den Regen bis zum Wasser. Er wirft sie hinein und setzt sich im Schneidersitz darauf. Es donnert. Mit geschlossenen Augen treibt er hinaus aufs Meer.