Esel sind sanfte Wesen, haben aber ihren eigenen Willen und können legendär stur sein. In der Urlaubsregion Saar-Obermosel in Rheinland-Pfalz kann man mit zwei Langohren wandern gehen – durch Wald, Wiesen und Weinberge zu einem antiken Römertempel.
Sehen, hören, riechen, ertasten und erschmecken: Plötzlich erlebt man die Natur nicht mehr nur beiläufig im Vorübergehen, sondern mit allen Sinnen. Ein sanfter Lufthauch transportiert die ätherischen Düfte der Wiesenblumen in die Nase. Milchkühe muhen. Auf einer Streuobstwiese klopft ein Buntspecht die Borke eines knorrigen Apfelbaums nach Insekten und ihren Larven ab. Tief im Wald drückt man sich an feuchten, mit Moos bewachsenen Buchen vorbei, um später mit einer weiten Aussicht auf Weinberge und einen in der Ferne glitzernden Fluss belohnt zu werden. Warum die gesteigerte Aufmerksamkeit? Zum einen ist die Wanderung kein strammer Marsch, eher ein gemütliches Flanieren. Zum anderen sorgen zwei außergewöhnliche tierische Reisegefährten dafür, dass man seine Umwelt auf einmal viel bewusster wahrnimmt als üblich. Iah! Iah! Vor rund 150 Jahren wanderte der Schriftsteller Robert Louis Stevenson mit der Eselin Modestine durch die Bergwelt der französischen Cevennen. Er ließ sich einen großen Schlafsack schneidern und hatte zwölf Tage lang kein anderes Zelt als den Himmel und kein anderes Bett außer Mutter Erde. Sein Reisetagebuch verarbeitete der Autor der „Schatzinsel" später zu einer munteren Erzählung über Land und Leute. Auch über das nicht ganz einfache Verhältnis zu seinem Packtier erfährt man viel. Stevensons Gefährtin war, anders als es der Name nahelegt, nämlich ganz und gar nicht anspruchslos und bescheiden: Sie folgte ihm quasi nie und bewegte sich wie in Zeitlupe.
Heute lassen sich Eselwanderungen auch in Deutschland buchen – am Edersee, im Harz, im Donautal und in der Uckermark. Doch der Startschuss für unsere Tagestour fällt im westlichsten Zipfel von Rheinland-Pfalz. Die hügelige Gegend zwischen den Flüssen Mosel und Saar bezeichnen die Einheimischen als Highlands, obwohl es überhaupt nicht karg aussieht wie in Schottland, sondern im Gegenteil idyllisch und fruchtbar. Hier kann man zwischen Schoden und Kanzem einen wilden Abschnitt der Saar mit dem Kanu entdecken – beim Wasserwandern entlang von Seerosen und Schilf zeigen sich manchmal Graureiher und Eisvögel. Die Saarburger Sesselbahn bringt einen in luftige Höhe, um vom Warsberg den Ausblick zu genießen. Zurück geht es über einen Weinlehrpfad in die Altstadt zu einem 18 Meter hohen Wasserfall. Früher wurden hier Getreide, Öl und die zum Gerben benötigte Eichenrinde gemahlen.
Um die Ecke liegt das Örtchen Mannebach, das Zuhause von Armin Schneider. Er steht für einen Verein, der Packeselwanderungen organisiert. Dessen zwei Tiere grasen nebenan auf der Weide und heißen – ein gutes Omen – Bilbo und Gandalf. Die Namen passen zu ihrer Aufgabe. Schließlich gehen die gleichnamigen Helden aus der Fantasywelt des Romans „Herr der Ringe" bei ihren Abenteuern ziemlich oft und ziemlich weit auf Wanderschaft. Bilbo, der Esel mit braunem Fell und mehr als 20 Jahren auf dem Buckel, ist der Chef des Duos und läuft vorne. Dann zuckelt auch der drei Jahre jüngere, wegen seines grauen Fells auf den Namen Gandalf getaufte Gefährte seinem Kompagnon hinterher – so die Theorie.
„Esel haben ihren eigenen Kopf. Diskutieren hilft nicht, da sind sie wie kleine Kinder: Man muss ihnen schon klarmachen, wo es langgeht", sagt Esel-Experte Armin Schneider. Wer sie nur höflich bittet, auf dem Weg zu bleiben und nicht vom Löwenzahn zu naschen, werde keinen Erfolg haben: „Dann bleiben sie garantiert alle fünf Meter stehen." Seine Ausführungen will er allerdings nicht als Einladung zu roher Gewalt verstanden wissen: Auch mit einer dominanten Körperhaltung, einem simplen Händeklatschen und energischem Rufen könne man sture Esel auf Trab bringen. Die Tiere folgen anscheinend übrigens lieber ihren vertrauten Artgenossen als dahergelaufenen Menschen – weshalb Bilbo und Gandalf ausschließlich gemeinsam ausgeliehen werden.
Die Tiere geben den Rhythmus vor
Die beiden Tiere wurden in letzter Minute vor dem Schlachter gerettet und sind nun im Besitz des Vereins, der sie als Wanderbegleiter vermietet, um die Kosten ihres Unterhalts zu decken. Sie sind kastriert, denn auf Esel trifft zu, was auch für Pferde gilt: Wallache sind umgänglicher als Hengste. Und sie leben ein langes Leben: „Esel können bis zu 40 Jahre alt werden", erklärt Armin Schneider. Zumal, wenn sie wie in Mannebach gutes Futter bekommen, rund um die Uhr freien Auslauf haben, und sich bei Hitze oder Regen in einem Stall verkriechen können. Eine Tierärztin kommt regelmäßig für Impfungen und Entwurmungen vorbei, und alle drei Monate legt ein Experte Hand an und schneidet die Hufe aus.
Mit einer Bürste das Fell säubern, die Hufe von kleinen Steinen reinigen, dann die Satteltaschen anlegen: Es kann losgehen. 40 Kilogramm trägt jeder Esel – Reittiere sind Bilbo und Gandalf also nicht, nur kleine Kinder dürfen aufsteigen. Schon nach ein paar hundert Metern Feldweg stellt sich heraus: Esel sind gern im Schneckentempo unterwegs. Als geübter Wanderer wäre man zwar deutlich schneller, doch die Tiere geben den Rhythmus vor. Sie lassen sich nicht aus der Ruhe bringen und sind überraschend pflegeleicht: Nur ab und an nutzen sie es aus, wenn man sie nicht fest am Zügel hält. Dann machen sie einen Abstecher zum saftigen Gras, das wirklich fabelhaft zu schmecken scheint. Pausen gibt es aber auch aus einem weiteren Grund: Wenn andere Wanderer den Weg kreuzen, wollen die sofort alle wissen, warum man mit Eseln unterwegs ist – und wie gut das klappt.
Überraschend gut! Wochenlang mit dem Duo unterwegs zu sein wie einst Robert Louis Stevenson wäre vielleicht etwas mühsam. Doch für eine kleine Tagestour mit ausgiebiger Picknickpause entpuppen sich Bilbo und Gandalf als verlässliche Begleiter. Man kann mit ihnen zu einem Greifvogelpark wandern oder zu einem Aussichtspunkt mit Blick ins Moseltal. Wir steuern ein antikes Bauwerk an, das vor über 2.000 Jahren errichtet wurde und nach seiner Zerstörung nun wieder rekonstruiert worden ist. „Der römische Tempelbezirk von Tawern lag an der Route von Rom nach Trier", erklärt Gerhard Michel, der hier Führungen anbietet. Geweiht war die Anlage Merkur, dem Gott des Handels und der Reisenden. Da fühlt man sich gleich verbunden – auch wenn wir auf der alten Römerstraße nicht als Legionäre zu Fuß oder als edle Reiter hoch zu Ross unterwegs sind, sondern entspannt und gelassen mit zwei Eseln. Man schließt Bilbo und Gandalf ins Herz und erinnert sich nach dem Abschied noch lange an sie. Ganz normale Wanderungen, also ohne Esel, erscheinen einem nun ziemlich langweilig.