In der Wissenschaft herrscht die Meinung vor, dass es sich bei Viren nicht um Lebewesen handelt, sondern um von einer Schutzhülle umgebene Erbgutfragmente. Erst beim parasitären Kontakt mit ihrem Wirt verlassen sie das Reich der Untoten. Als Grenzgänger haben sie viel zur menschlichen Evolution beigetragen.
In Zeiten der Corona-Pandemie grassiert weltweit wieder die Angst vor Viren. Dabei sind längst nicht alle Viren so gefährlich und krankmachend wie Sars-CoV-2. Vielmehr beherbergt der Mensch unbemerkt und ohne Gesundheitsschäden davonzutragen eine Vielzahl von Viren, die sich selbst in seinem Erbgut nachweisen lassen. Vor vier Jahren hatten Forscher der University of Utah herausgefunden, dass rund acht Prozent des menschlichen Genoms ursprünglich von Viren abstammen und damit nichts anderes als verstümmelte Virengene sind, deren Entstehung bis in frühe Urzeiten zurückreicht und die damit älter sind als der Homo sapiens. Dieser hatte in seiner Evolution durch den Einbau der Viren-DNA in sein Genom laut wissenschaftlichem Allgemeinkonsens enorm profitiert, nicht zuletzt dank der daraus resultierenden Stärkung seines Immunsystems.
Viren werden daher heute als Motor der Evolution angesehen, sie haben die Entwicklung des Menschen und anderer Säugetiere beschleunigt. Auch wenn heute noch immer weitgehend unklar ist, welche Funktionen die diversen Virenbausteine im menschlichen Organismus haben. „Für die meisten Sequenzen weiß man es nicht, welche Bedeutung sie haben", so der Molekularbiologe Prof. Martin S. Staege vom Universitätsklinikum Halle jüngst gegenüber dem MDR. „Es gibt sogar welche, die notwendig sind für menschliches Leben. Es gibt Virusgene, die zum Beispiel für die Placenta-Entwicklung unerlässlich sind." Auf der Webseite des Berliner Museums für Naturkunde wird der Anteil der Viren-DNA im menschlichen Genom sogar noch weitaus höher angesetzt als in den Untersuchungen der US-Forscher: „Knapp die Hälfte des menschlichen Erbgutes besteht aus verstümmelten Virengenen, die man heute noch nachweisen kann."
Über das Wesen der Viren herrschen in der breiten Öffentlichkeit noch ziemliche Verwirrung und jede Menge Missverständnisse. Wobei Viren häufig mit Bakterien in einen Topf geworfen werden, weil beide als potenzielle Infektionsherde und Krankmacher gelten. Dabei gibt es zwischen den beiden einen ganz grundlegenden Unterschied. Bakterien sind Lebewesen, sie verfügen über einen eigenen Stoffwechsel und sind als Einzeller die einfachste Lebensform unseres Planeten. Viren hingegen gehören nach vorherrschender wissenschaftlicher Meinung nicht zu den Lebewesen. Weil ihnen drei von vier grundlegenden Merkmalen fehlen, die gemeinhin für die Definition von Leben als absolut notwendige Anforderung postuliert werden. Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel, sie können sich nicht selbst bewegen und können sich auch nicht eigenständig fortpflanzen. Wie echte Lebenswesen besitzen sie einzig die Fähigkeit zur Mutation, sprich sie können auf ihre Umwelt reagieren und sich genetisch fortentwickeln. Ohne einen Wirt sind sie nichts anderes als leblose Biopartikel, die Grundfunktionen des Lebens wie Energiegewinnung, Atmung oder Reizbarkeit vermissen lassen. Im Zusammenspiel mit einem Wirt verkörpern sie hingegen die höchste Form des Parasitismus.
Kein eigener Stoffwechsel
Allerdings haben vor fünf Jahren US-Forscher der University of Illinois den Versuch unternommen, die Viren doch den Lebewesen zuzuordnen. Sie argumentierten folgendermaßen: Viren haben sich einst aus echten Lebewesen entwickelt. Aus Proteinvergleichen konnten sie ableiten, dass die fernen Vorfahren von Viren noch echte Zellen gewesen sein müssen. Erst als die Viren zu Zellparasiten geworden waren, haben sie sich demnach die Zellmaschinerie eingespart und stattdessen die ihrer Wirte genutzt. Die US-Forscher plädieren daher dafür, die Viren in den Stammbaum des Lebens als vierte große Domäne neben Archaeen, Bakterien und Eukaryoten aufzunehmen, weil sie nichts anderes als stark reduzierte Nachfahren von zellulären Vorläufern seien. „Unsere gewagte Vermutung besagt", so die Forscher, „dass es Proto-Virenzellen gab – Zellen, die vom letzten gemeinsamen Vorfahren von Viren und modernen Zellen abstammen. Diese Protozellen entwickelten sich dann zu den modernen Viren, während ihre Geschwister sich zu Archaeen, Bakterien und Eukaryoten diversifizierten. Viren sollten als lebende Organismen betrachtet werden, die einfach nur mithilfe einer atypischen Fortpflanzungsmethode überleben. Sie infizieren Zellen wie es auch andere obligate Parasiten tun, und sie verlassen sich wie sie auf ihre Wirte, um ihren Lebenszyklus zu vollenden."
Spätestens jetzt wird es höchste Zeit, sich des Pudels Kern oder dem Wesen der Viren endgültig zu nähern. Wobei „Kern" das falsche Wort ist, weil Viren eben nicht über einen Zellkern verfügen, was sie übrigens mit Bakterien und Archaeen, die zu den zellkernlosen Prokaryoten im Unterschied zu den mit einem echten Kern aufwartenden Eukaryoten gezählt werden, gemeinsam haben. Viren sind relativ einfach aufgebaut. Es handelt sich um nichtzellige, unbewegliche Biopartikel, wobei die Erbgutsubstanz, DNA oder RNA, durch eine äußere Hülle geschützt wird, die aus Proteinen besteht und gelegentlich auch noch Lipide beinhalten kann. Die meisten Viren, die letztlich nichts anderes als gut verpackte Erbgutfragmente sind, sind stäbchen- oder kugelförmig, manche sehen aber auch aus wie Fäden oder Quader. Beim Coronavirus ist es die inzwischen allgemein bekannte Kugelform.
Ganz wichtig ist für das Virus die Struktur seiner Oberflächenproteine. Ähnlich wie bei einem Schlüssel zu einem Türschloss muss diese Struktur perfekt zur Zellwand passen, damit sich das Virus überhaupt andocken kann. Denn nur dann wird das Virus überhaupt von der Zelle eingelassen und nicht als Feind erkannt. Daher kann jeder Virustyp nur eine spezifische Zelle infizieren. Oder er muss seine Oberflächenstruktur mutierend so weit verwandeln, bis ein perfektes Andocken möglich ist, so geschehen beispielsweise bei der Übertragung des Coronavirus auf den Menschen. Viren gibt es in schier unvorstellbarer Anzahl, obwohl bislang erst mehrere Zehntausende Virenarten offiziell registriert wurden, sie sind schätzungsweise zehnmal häufiger als Bakterien. Niemand wird sie ohne moderne technische Hilfsmittel jemals zu Gesicht bekommen. Vor Erfindung des Elektronenmikroskops 1938 konnte sich niemand eine Vorstellung von ihnen machen. Sie sind im Schnitt tausendmal winziger als Bakterien, ihre Größe schwankt zwischen 20 und 300 Nanometern. Influenzaviren bringen es auf bis zu 120 Nanometer, Coronaviren auf bis zu 160 Nanometer.
Viren haben keinen Zellkern
In der Luft segeln sie nicht einzeln herum, sondern sind dort immer in größeren Tröpfchen eingeschlossen, den sogenannten Aerosolen. Aber natürlich können Viren auch im Straßenstaub vorkommen. Manche verschwinden unter UV-Licht schon nach wenigen Stunden, andere können Jahre oder Jahrzehnte ihre potenzielle Infektionsgefahr bewahren. „Die stabilsten Varianten sind die, die so wie ein Zwanzig-Eck aufgebaut sind", so Prof. Gert Liebert, Leiter des Instituts für Virologie in Leipzig gegenüber dem MDR, „so ähnlich fast wie ein Fußball. Die sind hochstabil und können Monate und Jahre, möglicherweise auch Jahrzehnte infektiös bleiben." Beim Atmen stößt jeder Mensch Tröpfchen in der Größe eines Mikrometers aus, pro Atemzug können es zwischen 1.000 und 50.000 Tröpfchen sein, beim Husten kann sogar von einer zehnfachen Tröpfchenmenge ausgegangen werden, was in Corona-Zeiten hochproblematisch ist.
Sobald das Virus sich an die Zellwand angedockt hat, erwacht es gewissermaßen zum Leben. Es krallt sich an der Zelle fest, spritzt seine DNA und seinen Bauplan hinein. Die Wirtszelle liest das Virus-Erbgut ab und beginnt unverzüglich mit der Herstellung von Virus-Kopien. Unter der stetig wachsenden Virus-Last wird die Zelle irgendwann zerplatzen, und die Viren werden sich auf die Reise zu weiteren Zellen aufmachen, um auch diese zu kapern. Dabei handelt es sich um einen aus evolutionärer Sicht uralten Prozess, denn die Wissenschaft geht davon aus, dass schon die ersten Biomoleküle oder Zellen vor rund 3,5 Milliarden Jahren auf diese Weise von Viren infiziert wurden. „Solange es überhaupt Zellen gibt auf der Welt, solange gibt es auch Viren, die diese Zellen befallen", so die Einschätzung von Prof. Bernhard Fleischner, Immunologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, gegenüber dem MDR. Beim Menschen können manche Viren verschiedenste Erkrankungen verursachen und bei einem schon bekannten Erreger eine schnelle Abwehrreaktion des Immunsystems auslösen, was bei einem völlig neuen Virus wie Sars-CoV-2 allerdings nicht so ohne Weiteres gelingt.
Über den Ursprung der Viren ist die Wissenschaft bislang noch zu keiner eindeutigen Erkenntnis gelangt. Es gibt beispielsweise die Hypothese, wonach die Viren so etwas wie rückgebildete Bakterien sind, laut einer anderen Hypothese sollen Viren sogar die früheste Form von lebensähnlichen Zuständen auf der Erde gewesen sein, alle anderen höheren Wesen sollen sich demnach aus den Viren entwickelt haben. Auch in der Genetik ist die Beschäftigung mit Viren daher ein hochinteressantes Forschungsfeld, weil man dabei noch viel Unbekanntes über die menschliche Abstammung herausfinden möchte. Selbst in der modernen Medizin sieht man Viren nicht nur als Feinde, über die man zur Bewahrung der menschlichen Gesundheit obsiegen möchte. Speziell in der Krebsforschung oder im Kampf gegen multiresistente Keime werden große Hoffnungen auf einen zielgerichteten Einsatz von Viren gesetzt. So könnten diese beispielsweise Krebszellen zum Platzen bringen oder nach entsprechender Manipulation heilendes Erbgut einbringen. Es gibt diesbezüglich schon erfolgversprechende Ansätze, wie es der Genforscher Prof. Christopher Braun gegenüber dem MDR verraten hat: „Was man nun gemacht hat ist, dass man Viren ihre krankmachenden Gene entfernt hat und stattdessen eine therapeutische Gensequenz einführt. Man benutzt diese Viren wie Trojanische Pferde. Sie kommen rein in die Zelle. Was aber aus ihnen rauskommt, ist kein böses Virus mehr als Erbinformation, sondern die therapeutische Erbinformation wird übertragen."
Kein effizientes Arzneimittel
Bei der medikamentösen Behandlung von Viruserkrankungen stößt die moderne Medizin schnell an ihre Grenzen. Antibiotika sind bei Viren wirkungslos. Sogenannte Virostatika können zwar bei manchen Erkrankungen die Vermehrung von Viren hemmen oder deren Andocken und Eindringen erschweren, bei ihnen besteht aber immer auch die Gefahr, dass sie gesunde Körperzellen schädigen können. Ein wirklich effizientes Arzneimittel gegen Virusinfektionen wurde bislang noch nicht gefunden. Daher wird man sich weiterhin in erster Linie auf ein möglichst gut funktionierendes Immunsystem verlassen müssen. Dieses kann durch eine prophylaktische Impfung mit abgeschwächten Krankheitserregern auf die Abwehr eines potenziellen Virus-Angreifers bestens vorbereitet werden. Die Zusammensetzung des Impfstoffes muss allerdings immer wieder den ständigen Mutationen des Virus angepasst werden.