Erst fünf Deutsche wurden beim NHL-Draft bislang in der ersten Runde ausgewählt, und noch nie waren es mehrere in einem Jahrgang. In diesem Sommer könnten nun aber gleich drei deutsche Talente den Sprung in die nordamerikanische Profiliga schaffen.
Niemand konnte es in der abgelaufenen Hauptrunde in der NHL mit Leon Draisaitl aufnehmen. 110 Scorer-Punkte sammelte der Kölner in Diensten der Edmonton Oilers, ehe die reguläre Saison in der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga wegen des Coronavirus zunächst unterbrochen und dann vorzeitig abgebrochen wurde. Mit 43 Toren und 67 Vorlagen lag er zu diesem Zeitpunkt in der Scorer-Wertung deutlich vor seinem Teamkollegen Connor McDavid (97 Punkte) und holte damit als erster deutscher Spieler die Art Ross Trophy, die in der NHL alljährlich an den fleißigsten Punktesammler der regulären Saison vergeben wird. Ein aus deutscher Sicht bislang einmaliger Erfolg. „Dieses hohe NHL-Prädikat zu bekommen, ist für jeden Spieler eines der größten Ziele, die man erreichen kann. Leon hat sich diesen Traum erfüllt. Für den deutschen Eishockeysport ist das großartig und hat eine überragende Strahlkraft mit Vorbildcharakter“, sagte Franz Reindl, Präsident des Deutschen Eishockey-Bunds (DEB). „Wir sind sehr stolz auf Leon und seine Entwicklung, die Jahr für Jahr stetig steil nach oben ging.“
„Eine überragende Strahlkraft mit Vorbildcharakter“
Draisaitl gilt schon jetzt als der beste Eishockeyspieler aus Deutschland aller Zeiten. Er hat die stärkste Liga der Welt im Sturm erobert, seit er 2014 von den Oilers an dritter Stelle des NHL-Drafts ausgewählt wurde. Kein anderer deutscher Spieler wurde je so früh gezogen. Doch zumindest diesen Rekord könnte Leon Draisaitl bald los sein. In dieser Hinsicht kann es ein anderes Talent sehr wohl mit ihm aufnehmen, an den die Erwartungen in diesem Jahr mindestens genauso groß sind wie damals an Draisaitl. Wenn nicht sogar noch größer.
Die Rede ist von Tim Stützle von den Adler Mannheim. Die meisten Experten gehen davon aus, dass der 18-Jährige beim diesjährigen Draft mindestens als Dritter aufgerufen und damit Draisaitls Bestmarke einstellen wird. Einige Beobachter sehen ihn mittlerweile sogar auf Position zwei – direkt hinter dem Kanadier Alexis Lafreniere von Océanic de Rimouski aus der Quebec Major Junior Hockey League, der seit Monaten als erster Anwärter auf den Top-Pick gehandelt wird. In Europa sehen die Experten jedenfalls momentan keinen besseren. Regelmäßig veröffentlicht das NHL-Scouting-Büro eine Rangliste der größten Talente; in der abschließenden Bewertung für den Draft 2020 landete Stützle unter allen europäischen Spielern ganz vorn – vor den Schweden Alexander Holtz und Lucas Raymond, dem Finnen Anton Lundell und dem Russen Rodion Amirov.
„Stützle spielte das ganze Jahr ein reifes Spiel und beeindruckte mehr und mehr bei einem Top-Team“, sagte Goran Stubb, der zuständige NHL-Direktor für das Scouting in Europa. „Tim spielte eine wichtige Rolle im Team, wurde in allen Situationen eingesetzt. Er ist ein herausragender Schlittschuhläufer und verfügt neben seiner Schnelligkeit über einen ausgeprägten Sinn für das Spielgeschehen. Er ist ein außergewöhnliches Talent.“
Der Stürmer stammt ursprünglich aus Viersen und verbrachte den Großteil seiner Junioren-Karriere im Nachwuchs der Krefeld Pinguine. 2017 verschlug es ihn dann nach Mannheim zu den Jungadlern, dem Nachwuchsteam des DEL-Clubs Adler Mannheim. Bereits mit 15 Jahren mischte er die Deutsche Nachwuchs-Liga (DNL) auf, und das gegen deutlich ältere Konkurrenz, von denen viele kurz vor dem Sprung in die Deutsche Eishockey-Liga (DEL) oder die DEL 2 waren. Nach überragenden Statistiken sicherte er sich vor der Saison 2019/20 selbst seinen Stammplatz im DEL-Kader der Mannheimer. Schon mit 16 Jahren spielte er außerdem im U20-Nationalteam. Beim Wiederaufstieg der deutschen Junioren in die Top-Division Ende 2019 wurde er nach sieben Torvorlagen als bester Assist-Geber und zudem als bester Stürmer des Turniers ausgezeichnet.
„Es wäre eine riesengroße Ehre“
In der DEL gelang ihm gleich in seinem ersten Spiel in der Eliteliga gegen Nürnberg sein erster Treffer. Am Ende des ersten Monats wählten ihn die Adler-Fans zum Spieler des Monats. „Mit Männern zu trainieren und zu spielen hat mir sehr geholfen. Meine Teamkollegen wollten mich besser machen und dafür bin ich dankbar. Ich konnte viel von den erfahrenen Spielern lernen“, sagte Stützle in einer NHL-Videokonferenz. Am Ende gelangen ihm in 41 Spielen sieben Tore und 27 Assists, insgesamt also 34 Scorer-Punkte. Und mit jedem erfolgreichen Auftritt sammelte er neue Fans, auch in Übersee. Bald belegten die Scouts aus der NHL ganze Sitzreihen in den Stadien, um Stützle zu beobachten, der auch im Powerplay viel Eiszeit von Adler-Trainer Pavel Gross bekam – eher ungewöhnlich für einen so jungen Spieler. „Er traut sich am meisten“, so der Coach zum Nachrichtenportal „Mannheim24“.
Mit dem Wechsel in die NHL steht nun der nächste Karriereschritt an. „Es wäre eine riesengroße Ehre für mich, unter die ersten drei zu kommen“, sagte Stützle. Erst fünf Deutsche wurden im Draft bislang überhaupt in der ersten Runde gezogen: Neben Leon Draisaitl wurde diese Ehre zuvor nur Marco Sturm (Nummer 21, 1996) und Marcel Goc (Nummer 20, 2001) sowie zuletzt Dominik Bokk (Nummer 25, 2018) und Moritz Seider zuteil – der Verteidiger wurde im vergangenen Draft als Sechster von den Detroit Red Wings ausgewählt, verbrachte seine erste Saison in Nordamerika aber ausschließlich beim Farmteam Grand Rapids Griffins in der AHL (American Hockey League).
Zwei oder gar drei deutsche Spieler in der ersten Runde eines NHL-Drafts gab es allerdings noch nie. Auch in dieser Hinsicht könnte die diesjährige Veranstaltung für ein historisches Ergebnis sorgen. Denn neben Tim Stützle gibt es mit den beiden Stürmern John-Jason Peterka vom EHC Red Bull München und Lukas Reichel von den Eisbären Berlin noch zwei weitere Anwärter auf eine vordere Draft-Platzierung. Peterka sammelte in der abgelaufenen DEL-Saison in 42 Spielen elf Punkte (sieben Tore, vier Vorlagen) und landete damit auf Platz sieben im europäischen Scout-Ranking; Lukas Reichel wurde nach 24 Punkten in 42 Spielen (zwölf Tore, zwölf Assists) als elftbester Europäer eingestuft. Beide haben damit ebenfalls gute Chancen, schon in der ersten Runde von einem NHL-Club ausgewählt zu werden. „Ich bin ganz sicher, das wird das beste Ergebnis, das wir je hatten“, sagte DEB-Präsident Franz Reindl. Nationalspieler Dominik Kahun, der in Nordamerika bereits Fuß gefasst hat und aktuell für die Buffalo Sabres stürmt, meinte gegenüber „NHL.com“: „Wir Deutschen hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck. Von daher denke ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das deutsche Eishockey bekommt in der NHL einen immer größeren Stellenwert.“ Wegen Leon Draisaitl. Aber auch durch die sensationelle Silbermedaille des DEB-Teams bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang (Südkorea).
„Wir sind auf dem richtigen Weg“
Wann genau der Draft mit den drei deutschen Top-Talenten über die Bühne geht, ist allerdings noch offen. Normalerweise findet dieser erst nach Abschluss der Saison statt, doch diese ist wegen des Coronavirus weiterhin unterbrochen. Ende Mai gab die Ligaleitung bekannt, dass die verbleibenden 189 Spiele der Hauptrunde nicht mehr ausgetragen werden. Stattdessen spielen die jeweils zwölf besten Teams aus der Eastern und Western Conference in zwei noch festzulegenden Gastgeberstädten die Play-offs aus, um so den Stanley-Cup-Champion zu ermitteln. Allerdings wird es frühestens Ende Juli weitergehen – derzeit dürfen die Teams noch nicht einmal in voller Stärke trainieren. Der Draft, der ursprünglich für den 26./27. Juni in Montreal geplant war, soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden – und zwar ausschließlich in virtueller Form.
Immerhin will die Liga am letzten Juni-Wochenende schon einmal die Reihenfolge der ersten drei Picks ermitteln. In der Verlosung sind dann die sieben Mannschaften, die sich gar nicht für die Endrunde qualifiziert haben, sowie jene acht, die dann in der Qualifikationsrunde ausscheiden – wobei diese logischerweise noch gar nicht namentlich feststehen (die Lose sind deshalb einfach mit Team A, Team B und so weiter beschriftet). Das macht es so kompliziert. Für den Fall, dass eine dieser Mannschaften gezogen wird, muss deshalb zu einem späteren Zeitpunkt eine zweite Verlosung unter den acht in der Qualifikationsrunde ausgeschiedenen Mannschaften erfolgen. Nur falls für die ersten drei Plätze ausschließlich die Nicht-Play-off-Teams gezogen werden, wäre diese zweite Phase nicht notwendig – und Tim Stützle könnte sich schon einmal gedanklich darauf vorbereiten, wer sein künftiger Arbeitgeber wird.