Die USA sprechen beim Handel mit China von Entkopplung. Dr. Katja Levy, Dozentin für Politik Chinas an der TU Berlin, rät den Europäern die globale Verflechtung beizubehalten. Sie wirbt für eine pragmatische Chinapolitik.
Frau Levy, neuerdings fordern viele, die EU sollte sich wie die USA von China entkoppeln – Stichwort Decoupling. Was versteht man darunter?
Unter Decoupling verstehe ich das Unterbrechen von transnationalen Handels- und Produktionsketten. Teilweise wird dieser Gedanke jetzt auch auf die politischen Beziehungen zwischen den Ländern ausgeweitet. Die Debatte über Entkopplung hat ihren Ursprung in der negativen Handelsbilanz der USA mit China.
Aber von den billigen Preisen chinesischer Waren haben doch alle profitiert …
Richtig, eine gewisse Zeit lang haben alle von den wachsenden globalen Verflechtungen profitiert. Als Billigproduktionsland Nummer eins konnte sich China über Investitionen aus dem Ausland freuen. Die anderen Länder haben ihre Produktion nach China verlagert und durch die Kostenersparnis in der Produktion große Gewinne gemacht. Außerdem konnten sie ihre Waren auch auf dem verlockend großen Absatzmarkt Chinas an zunehmend solvente Verbraucherinnen und Verbraucher verkaufen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa und den USA konnten sich im Gegenzug über kostengünstige Waren, vor allem Kleidung und Elektroartikel, freuen. China und auch Deutschland haben sehr von diesem Wirtschaftsmodell profitiert. Sie machen sich gegenseitig den ersten Platz als Exportweltmeister streitig. Die Schattenseiten waren Arbeitsplatzverlust in den Industrieländern und Umwelt- und Klimaschäden überall.
Hat Trump Recht, wenn er die US-Wirtschaft von China entkoppeln will?
Tatsächlich ist so ein Wirtschaftsmodell, in dem die eine Seite mehr verkauft als die andere sich leisten kann, auf die Dauer nicht nachhaltig. Populistische Politiker wie Donald Trump nutzen jetzt die ökonomische Schieflage aus und zielen mit der Forderung nach Entkopplung aber nur auf die Ängste der Leute ab.
Was sollten die Europäer tun?
Europa sollte sich nicht entkoppeln, sondern lieber gemeinsam mit den anderen Staaten und Regionen an einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell arbeiten. Dabei spielen lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe und die Sicherung von Arbeitsplätzen auch durch zeitgemäße Bildung und Ausbildung eine sehr wichtige Rolle. Die globalen Netzwerke und Verflechtungen zwischen den Ökonomien und vor allem zwischen den Menschen sollten wir dabei auf keinen Fall aufgeben.
Was bedeutet in dem Zusammenhang „nachhaltig"?
Nachhaltig wäre ein Wirtschaftsmodell, das den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Welt hinterlässt. Also ein Wirtschaftsmodell, das nicht auf immer größeres Wachstum und immer größeren Verbrauch ausgerichtet ist. Dazu braucht man Technologien, die keinen Raubbau an Rohstoffen und Umwelt betreiben, das Klima schützen und weniger Müll produzieren. Und Arbeitsbedingungen überall auf der Welt, die nicht gegen die Menschenrechte und -würde verstoßen. Auch die chinesische Regierung ist auf der Suche nach solchen Lösungen. Da gibt es viele Möglichkeiten anzukoppeln!
China bescheinigt sich selbst einen perfekten Umgang mit dem Corona-virus. Ist es Vorbild für andere?
Die chinesische Regierung wird meiner Ansicht nach zu Unrecht wegen ihres Umgangs mit der Pandemie gescholten. Es ist sicher richtig, dass am Anfang nicht alles glatt lief. Die lokalen Behörden hatten Angst, falsche Entscheidungen zu treffen. Ein typisches Phänomen in China. Lokale Regierungsbeamte sprechen oft Probleme nicht offen an, weil sie – zu Recht – befürchten, dass vorhandene Missstände ihnen persönlich angerechnet werden und sie am Aufstieg auf der persönlichen Karriereleiter hindern könnten. Sie warten dann oft so lang, bis das Problem zu groß geworden ist.
Zögern kann man den chinesischen Behörden nicht gerade vorwerfen …
Man muss sich aber mal vor Augen führen, dass die Pandemie alle politischen Entscheiderinnen und Entscheider der Welt vor unglaublich schwere Entscheidungen gestellt hat. Wir haben hier doch auch viel über das Prophylaxe-Paradox diskutiert: Schränkt man zu früh und zu viel ein und hilft damit, die Pandemie wirksam einzudämmen, wird man nachher gescholten, man habe zu stark in die Grundrechte eingegriffen. Ist man am Anfang zu lax mit den Einschränkungen, wird man nachher als unverantwortlich bezeichnet. Gerüchte und Verschwörungstheorien haben in einer solchen Situation das Potenzial, sehr viel Unruhe in eine Gesellschaft zu bringen und das Vertrauen in die Regierung empfindlich zu stören. Deshalb ist das Zögern der Politikerinnen und Politiker überhaupt zu handeln und auch ihre Furcht vor der Verbreitung von Angst in der Öffentlichkeit eigentlich ganz normal.
Sie meinen, die Behörden haben richtig reagiert?
Ich habe mal nachgerechnet: In China vergingen genau 27 Tage von der ersten Corona-Warnung bis zum Lockdown in Wuhan; in den USA vergingen 54 Tage (genau doppelt so viele) vom ersten Covid-19-Fall im Land bis zur Ausrufung des nationalen Notstands. Selbst in Deutschland haben wir länger als in China gebraucht: 47 Tage vom ersten Infizierten in Deutschland bis zum Lockdown. Und das, obwohl wir wochenlang sehen konnten, wie die Katastrophe in China ihren Lauf nahm. In Sachen Schutz der Privatsphäre und persönlicher Freiheit gehen die chinesischen Behörden mit ihrer technischen Überwachung aber weit über das hinaus, was bei uns vertretbar wäre.
Was halten Sie vom Seidenstraßenprojekt?
Das Seidenstraßenprojekt ist riesengroß. Es umspannt ja praktisch schon die ganze Welt. Man muss da die einzelnen Länder und Motivationslagen differenziert betrachten. China hatte zunächst einmal einige eigene Gründe, warum es sich in der Außenpolitik nach Westen gewandt hat. Erstens hatte China nach den großen innerchinesischen Infrastrukturinvestitionen in Antwort auf die Finanzkrise von 2008/2009 riesige Überkapazitäten aufgebaut, insbesondere in der Stahlproduktion und der Bauindustrie. Es lag also nahe, neue Abnehmer für diese Produkte zu suchen. Gleichzeitig besteht in Asien und im eurasischen Raum ja auch ein großer Bedarf an Infrastruktur. Der zweite Grund ist, dass die USA in Asien, also in Chinas Osten und Süden, eine zum Teil aggressive Eindämmungspolitik gegenüber China betrieben, indem sie enge Kooperationen, zum Teil militärischer Natur, mit Chinas Nachbarn aufbauten. Es lag also auch vor diesem Hintergrund nahe, in der anderen Richtung, also im Westen, neue Partner zu suchen.
Werden da Regionen und Länder nicht in die Abhängigkeit getrieben?
Das hängt damit zusammen, dass die westliche Entwicklungspolitik in vielen Teilen der Welt wenig effektiv war. Viele Empfängerländer in Asien und Afrika verharren auf einem niedrigen wirtschaftlichen und technischen Niveau und kommen nicht aus der Armut. Zum Teil hat das mit der Kopplung der westlichen Entwicklungshilfe an bestimmte politische und ökonomische Vorgaben zu tun. Zum Beispiel waren Darlehen an Entwicklungsländer oft mit der Forderung nach ökonomischer Öffnung für ausländische Investoren verbunden, sodass die einheimischen Industrien dieser Länder keinen geschützten Raum zur Entwicklung hatten. China dagegen fordert zwar politische Solidarität, aber knüpft sonst keine politischen Forderungen an seine Hilfs- oder Kooperationsangebote. Viele Länder schätzen das. Und sie erhalten manchmal auch tatsächlich keine besseren Angebote aus den USA oder Europa. Auf der Seidenstraße laufen Dinge schief, aber zu behaupten, dass das chinesische Seidenstraßenprojekt zum Ziel hätte, die beteiligten Länder absichtlich zu schädigen, ist zu kurz gegriffen. Statt das Projekt zu verdammen, sollten sich die bisher noch nicht beteiligten Länder lieber überlegen, wie sie durch eigene Initiativen entlang der Route aus dieser chinesischen Initiative eine noch bessere globale Initiative machen könnten.